"Wir fürchten eine Klagswelle"

Muss man als Pädagoge alle Eventualitäten einkalkulieren, wenn ein Kind die Rutsche betritt? Eine Kindergärtnerin wird nach einem Unfall zur Verantwortung gezogen.
Gewerkschaft startet Info-Kampagne für verunsicherte Kindergartenpädagogen.

Sie ist spürbar, sie ist allgegenwärtig. Gemeint ist die Verunsicherung, die rund 80 Menschen veranlasst hat, eine nicht alltägliche Veranstaltung im Eventcenter Wolfsberg, Kärnten, zu besuchen.

Gestandene, erfahrene Kindergartenpädagogen stellen plötzlich Fragen: Was darf ich wann welchem Kind in welchem Alter zumuten? Inwiefern muss ich die Gruppengröße, die Anzahl der anwesenden Kollegen oder Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern in der Vergangenheit einkalkulieren? Und wenn ich einen Ausflug unternehme: stehe ich nicht andauernd im Kriminal?

Der Fall eines dreijährigen Kindergartenkindes, das im Rahmen eines Freibadbesuches in Bleiburg untergegangen war und schwere Hirnschäden davongetragen hat, war Auslöser dieser Verunsicherung, denn zwei Kolleginnen müssen sich bald wegen fahrlässiger Körperverletzung vor Gericht verantworten. Die younion, die Gewerkschaft der Gemeindebediensteten, sah sich in den vergangenen Wochen mit einer Flut von Anfragen in Bezug auf Haftungen und gesetzliche Regelungen konfrontiert – und veranlasst, mit Informationsveranstaltungen durch die Kärntner Bezirke und in der Folge durch andere Bundesländer zu touren.

Wer kann was?

Den Anfang machte Wolfsberg. "Der Umgang mit Kindern wird im Handyzeitalter immer schwieriger. Wir wissen nicht mehr, was wir beispielsweise im Bewegungsraum anbieten sollen und dürfen, zu unterschiedlich sind die Kinder in Sachen Geschicklichkeit", beklagt beispielsweise Irmgard Wech, Kindergartenpädagogin aus St. Marein.

"Wir befürchten eine Klagswelle. Muss ich bei einem Kind, das bereits auffällig war, andere Maßstäbe ansetzen? Kann ich straf- oder zivilrechtlich belangt werden, wenn ich dies nicht beachte?", fragt Corinna Mellunig aus Preitenegg. In den Köpfen der Besucher ist das Urteil des Obersten Gerichtshofs, wonach eine Kindergärtnerin aus Graz zur Schadenersatzzahlung verpflichtet wurde, weil sich ein Kind beim Rutschen den Arm brach.

Dies beschäftigt auch die Gemeinden als (Haftungs)-Träger. "Wir wissen ja nicht mehr, welche Ausflüge wir anbieten sollen; wie wir uns als Gemeinde und unsere Kindergärtnerinnen schützen", erklärt Klaus Mischitz, Amtsleiter von St. Kanzian.

"Nicht Big Brother"

Bei der Vortragsreihe mit dabei ist auch der Klagenfurter Anwalt Wolfgang Kofler. Wiederholt muss er betonen, dass es keinen Leitfaden gibt, ab wann die Aufsichtspflicht als verletzt anzusehen ist oder der Tatbestand der Fahrlässigkeit greift. Es gelte, den Spagat zu schaffen: alle Fakten vom Alter des Kindes bis hin zu örtlichen Gegebenheiten einzukalkulieren, ohne aber Big Brother zu spielen und die Kleinen auf Schritt und Tritt zu überwachen. Dann folgt Koflers Warnung: "Aber wir werden bald US-amerikanische Verhältnisse haben. Die Tendenz bei Eltern, einen Schuldigen bei Unfällen zu suchen, steigt. Und damit die Lust zu klagen."

Weniger Aktivitäten

Indes sinkt in Kärnten die Zahl der Kindergarten-Ausflüge. "Die Kollegen sind nicht mehr im selben Ausmaß bereit, Skikurse oder Waldtage zu veranstalten", erklärt Landeskindergarteninspektorin Iris Raunig.

Die Vorfälle haben auch in den Köpfen der Verantwortlichen Spuren hinterlassen. "Daher sind bei den younion-Abenden stets Psychologen zur Beratung mit an Bord", betont younion-Landesvorsitzender Franz Liposchek.

In Wolfsberg rät Andrea Egger den Pädagoginnen, sie mögen sich ihrer Kompetenzen, ihrer Erfahrungen, der Ausbildung und Qualifikation bewusst sein. Intuitiv reagiere man dann in heiklen Situationen richtig. "Wenn die Verunsicherung bleibt, steigt auch die Fehleranfälligkeit – ein Schneeballsystem droht", warnt Egger.

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