Nach 17 Jahren als Buchhalterin in einer Steuerberatungskanzlei entschied sich die 45-jährige Wienerin, genau diesen Weg einzuschlagen: Sie machte die Ausbildung zur Sexualbegleiterin. Der Grundstein dafür wurde schon in ihrer Jugend gelegt, schildert Astrid. Sie trägt ein sommerliches Outfit – gestreiftes T-Shirt, kurze Hose, die braunen Haare hochgebunden – und erzählt von dem Sommer, der sie besonders geprägt hat.
Der Sommer 1998
Es war August 1998. „Mit einer Freundin war ich in Frankreich auf Interrail. In der gleichen Jugendherberge war ein junger Mann mit Down-Syndrom, der uns am Gang auf die Brüste greifen wollte.“ Die Situation sei für die damals 20-Jährige sehr schwierig gewesen. „Einerseits wollte ich natürlich nicht meine Grenzen überschreiten. Andererseits hatte ich das Gefühl, ich kann ihn nicht gleich behandeln wie einen anderen Mann, der mir einfach so auf die Brüste greift.“
Dieses Erlebnis habe sie zum Nachdenken gebracht. „Ich habe mir die Frage gestellt, ob das der einzige Weg für diesen Mann ist, je eine Frau zu berühren. Indem er übergriffig wird“, schildert die 45-Jährige. Sexualbegleitung für beeinträchtigte Menschen gab es zu diesem Zeitpunkt in Österreich noch nicht. Erst Ende der 1990er-Jahre nahm die Niederländerin Nina de Vries, auch bekannt als „Pionierin der Sexualassistenz“, ihre Arbeit als Sexualbegleiterin auf. Sie arbeitete mit Autisten und Menschen mit kognitiven oder physischen Störungen. So wie Astrid heute.
„Menschen mit Behinderung und Nichtbehinderte unterscheiden sich in ihren sexuellen Wünschen überhaupt nicht“, sagt Astrid. Nichtsdestotrotz sei die Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigung nach wie vor ein Tabuthema.
➤ Lesen Sie auch: Mann soll Sehbehinderung für Pension vorgetäuscht haben
„Ich glaube, das Thema ist so tabuisiert, weil Sex im Alter und Behinderung an sich jeweils Tabuthemen sind. Beides ist oft mit Scham behaftet. Deswegen, glaube ich, reden wenige Leute darüber“, sagt Astrid. Sie hat etwa 20 Stammkunden, die sie regelmäßig in Altersheimen oder betreuten Wohngemeinschaften besucht. Die Kunden melden sich entweder selbst bei der Sexualbegleiterin oder Angehörige stellen den Kontakt her. Darin sieht Astrid auch die größte Herausforderung in ihrem Job – die Zusammenarbeit mit dem Umfeld ihrer Kunden.
„Die Kommunikation mit Erwachsenenvertretern, Betreuern oder Familien ist oft kompliziert. Häufig wissen die gar nicht, was meine Kunden eigentlich wollen, weil sie nicht direkt und ehrlich mit ihnen über deren sexuelle Bedürfnisse sprechen“, so die 45-Jährige. Einmal sei sie zu einem Hausbesuch geschickt worden. Der Kunde hatte konkrete Vorstellungen: Eine Frau über 50 oder eine Transe mit Penis. „Das konnte ich nicht erfüllen. Solche Vorfälle könne man halt verhindern, wenn man klar und offen miteinander redet“, sagt Astrid.
Übergriffe im Heim
Die Palette an Kunden sowie deren Bedürfnisse seien sehr breit. Ihr jüngster Kunde ist 18 Jahre alt, der älteste 95. Ältere Personen würden häufig über Altersheime vermittelt werden. Dort gebe es aber oft einen konkreten Anlass, warum sich das Personal an Astrid wendet: Übergriffe auf Krankenschwestern oder Pflegerinnen. Vorfälle wie diese könnten laut Ansicht der 45-Jährigen aber verhindert werden. „Es gibt in unserer Gesellschaft großen Bedarf an Sexualbegleitung, nur wissen viele nicht, dass es bereits Angebote gibt“, sagt Astrid. Genauso wie ein Friseur etwa einmal die Woche in Pflegeheimen vorbeischaut, sollte es in Zukunft auch normal sein, dass eine Sexualbegleiterin den Patienten dort regelmäßig Besuche abstattet, fordert sie.
Es gehe nämlich nicht nur um Sex. Sondern auch darum, den Menschen zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen. So wie bei Daniel. „Bei ihm ging es darum, dass er sich endlich als sexuelles Wesen fühlt. Wie alle anderen.“
Kommentare