Wenn der Ruf vorauseilt: Strasshof kämpft um sein Image
Es ist das längste Straßendorf in Österreich. Über 6,8 Kilometer zieht sich das Gemeindegebiet von Strasshof an der Nordbahn an der viel befahrenen Bundesstraße 8 entlang. Es ist auch die Heimat des größten Eisenbahnmuseums des Landes, dem Heizhaus.
Außerdem ist die 12.000-Einwohner-Gemeinde einer der schnellst wachsenden Orte in Niederösterreich, nur neun Kilometer von der Wiener Stadtgrenze entfernt und direkt an der Nordbahn gelegen. Und mit dem 172 Meter hohen Rodelberg darf sich Strasshof damit rühmen, die höchste Erhebung in der Region zu haben.
Viele gute Gründe also, um Strasshof an der Nordbahn zu kennen. Berühmtheit, sogar weltweite, hat die Gemeinde aber aufgrund trauriger Ereignisse erlangt: Strasshof war in den vergangenen Jahren Schauplatz mehrerer schauriger Verbrechen, die zu den schlimmsten Kriminalfällen in der Geschichte Österreichs zählen.
Vor allem die Entführung von Natascha Kampusch, die über acht Jahre lang im Keller eines Einfamilienhauses gefangen gehalten wurde, hat den Ort international in die Schlagzeilen gebracht.
Keller-Witze
„Wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme, dann sage ich immer aus Gänserndorf“, erzählt eine Bewohnerin. Schlechte Witze über ihren Wohnort kennen die Strasshofer nämlich zu Genüge.
Sprüche wie „Ihr habt ja schöne Keller…“ stehen dabei ganz oben auf der Hitliste. Und am vergangenen Montag kam ein weiterer Fall dazu, der wieder für Gesprächsstoff über die Gemeinde sorgte: Ein 27-Jähriger soll seine Mutter mit einem Messer erstochen und seinen Stiefvater lebensgefährlich verletzt haben. Danach wollte sich der Verdächtige selbst das Leben nehmen. Mittlerweile hat der Mann den Mord laut Polizei gestanden. Streit und unterschiedliche Weltanschauungen hätten ihn dazu getrieben.
Dafür, dass diese Kriminalfälle geschehen sind, können die Leute hier in Strasshof nichts. Nur die Täter.
„Natürlich fragt man sich schon, warum das bei uns so gehäuft auftritt“, sagt Alfred Geier, gebürtiger Strasshofer und pensionierte Bäckerlegende. Er kennt den Ort wie seine Westentasche, das Stammhaus des Familienbetriebes ist bis heute dort zu finden. Und er hat alle Kriminalfälle, die in den vergangenen Jahren in seinem Heimatort passiert sind, miterlebt.
„Das waren allesamt alteingesessene Strasshofer“, erzählt er. Sie lebten in Einfamilienhäusern, in Siedlungen, waren Teil des Strasshofer Gemeindelebens. „Mit dem Mann, der seine Schwester und ihren Partner sowie seinen Bruder und seine Frau umgebracht hat, habe ich lange Fußball gespielt“, sagt Geier. Und die Mutter von Wolfgang Priklopil, dem Entführer von Natascha Kampusch, kaufte ihr Brot gerne in der Bäckerei Geier ein.
Dass Medienmeldungen wie jene am Montag nicht spurlos an den Bewohnern vorübergehen, weiß er von den vielen Gesprächen, die er in seinem Café führt. „Für die Leute ist das ein Wahnsinn. Es ist kaum vorstellbar, wie so etwas geschehen kann“, sagt Geier. Er erinnert sich zurück, als 2006 die Flucht von Natascha Kampusch und der Selbstmord ihres Entführers durch die Medien ging. „Wir waren im Urlaub. Ich weiß noch, dass ich Angst hatte, dass das Haus in unserer Straße steht“, schildert er.
Mord vor der Haustür
Auch der Mord am Montag ist in einer Siedlung passiert. Er ereignete sich just in der Straße, in der vor neun Jahren ein 22-Jähriger seine Mutter niederschlug und mit mehr als 30 Messerstichen tötete. Dann versteckte er ihre Leiche im Bettkasten und flüchtete als Student in die USA, wo er schließlich von der Polizei ausgeforscht wurde.
„Man muss sehr verzweifelt sein, um eine solche Tat zu begehen“, sagt ein Bewohner der Siedlung, der nur wenige Meter vom Tatort entfernt lebt. Er war am Montag am Weg in die Arbeit, als ein Hubschrauber über Strasshof kreiste und ein Polizeigroßaufgebot vor dem Einfamilienhaus Stellung bezog.
- Der Fall Kampusch
Am 2. März 1998 wurde die damals zehnjährige Natascha auf dem Schulweg in einen Lieferwagen gezerrt und entführt. Sie lebte über acht Jahre in einer Montagegrube unter der Garage von Wolfgang Priklopil. 2006 gelang ihr die Flucht. - Vierfachmord
Ein 66-Jähriger aus Strasshof erschoss 2008 seine Schwester und deren Mann sowie seinen Bruder und dessen Frau. Hintergrund der Tat sollen Familienstreitigkeiten gewesen sein, es ging um eine Mieterhöhung, die dem Mann von seiner Schwester auferlegt wurde. - Muttermord
Im Jahr 2014 greift ein 22-Jähriger seine Mutter an. Zuerst schlägt er sie mit einem Briefbeschwerer bewusstlos, dann sticht er 36 Mal mit einem Messer auf sie ein. Er wickelt ihren Leichnam in eine Baufolie ein und versteckt ihn in einer Bettzeuglade. Dann taucht der Jus-Student in den USA unter. Die Polizei kann ihn schließlich ausforschen.
„Ich dachte zuerst, dass ein Unfall passiert sein muss, und habe einen Polizisten gefragt, was passiert sei. Dieser antwortete aber nur: ,Was hier passiert ist, erfahren sie eh aus der Zeitung.’“ Erst im Büro erfuhr er, was unmittelbar vor seiner Haustüre geschehen war. Und er sah sich einmal mehr mit dem schlechten Image seiner Heimatgemeinde konfrontiert, das seine Kollegen in der Arbeit breittraten. „Ich hoffe, dass Strasshof das irgendwann los wird. Ich bin aus Wien hierher gezogen, habe hier viele Freunde gefunden. Es ist schön, hier zu leben“, bricht er eine Lanze für seinen Heimatort.
Auch Geier will nichts mehr davon hören, dass sein Heimatort verwunschen oder verflucht sei. „Wer hierher zieht und auch nur ein bisschen Interesse zeigt, kann hier so viel machen“, ist er überzeugt. 80 Vereine zählt die Gemeinde, jede Menge Freizeitareale, Kulturstätten und Schuleinrichtungen. Und, davon ist Geier als Gastronom überzeugt: „Wer einmal in Strasshof war, der kommt immer wieder.“
„Dafür, dass diese Kriminalfälle geschehen sind, können die Leute hier in Strasshof nichts. Nur die Täter“, ärgert sich der langjährige Bürgermeister Ludwig Deltl über Facebook-Postings, in denen nach der Bluttat am vergangenen Montag gegen Strasshof gewettert wurde. Wobei: Über mangelnden Zuzug könne sich die Gemeinde trotz der Nachrede nicht beschweren. Die Lage an der Nordbahn ist es, die heute ebenso wie früher viele Wiener zu Niederösterreichern werden lässt.
Deltl ist stolz auf Strasshof, und auf die Menschen, die dort gerne freiwillig mitanpacken. Wie bei der Tafel Österreich, die von Strasshof aus organisiert wird und Menschen in Notlagen mit Lebensmitteln unterstützt. Oder wie beim großen 100-Jahr-Jubiläum der Gemeinde, das heuer gefeiert wird.
Apropos 100 Jahre Strasshof: Es wurde auch ein Imagefilm gedreht. „Strasshof ist eine Gemeinde, die sich weiterhin den Herausforderungen der Zukunft stellt“, wird darin gesagt. Der Kampf für einen besseren Ruf gehört da wohl oder über dazu.
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