Vom Flüchtlingskind zum Terroristen

Radikalisierung fand im Gefängnis statt
Fallrekonstruktion: Wie ein junger Tschetschene im Gefängnis durch Kontakte mit IS-Anhängern und einem Syrien-Rückkehrer radikalisiert wurde.

Eine neue Studie des Islam-Wissenschaftlers Ednan Aslan untersucht an Hand von Lebensgeschichten Jugendlicher, wie Radikalisierung stattfindet. Von 29 interviewten Muslimen waren 15 wegen Terror-Straftaten in Haft. Die Fallrekonstruktion eines jungen Tschetschenen, der Ismail genannt wird, zeigt ein offenbar typisches Abdriften in ein radikales Milieu und eine Überforderung der sozialen und behördlichen Strukturen auf.

Ismails Familie flüchtete 2004 vor dem Krieg in Tschetschenien nach Österreich, als der Bub sechs Jahre alt war. Seine Kindheit verbrachte er hauptsächlich mit Computerspielen, die Religion war für ihn kein großes Thema, seine Bezugspersonen waren Landsleute. In der dritten Klasse Hauptschule hatte Ismail seine erste Schlägerei, die ihm Respekt und neue Freunde verschaffte. Es gab erste Gewalt- und Raubdelikte sowie Zwischenfälle in der Schule, nach deren Abschluss Ismail einen AMS-Kurs besuchte, der ihn auf eine Lehre vorbereiten sollte. Dort traf Ismail wieder auf seine alte Clique. Es folgten erste Verurteilungen und zwei Gefängnisaufenthalte, in denen Ismail wieder nur mit ebenfalls einsitzenden Tschetschenen Kontakt hatte.

Hier wandte sich der inzwischen 16-Jährige – auf der Suche nach einem Sinn, nach Beschäftigung – dem Islam zu. Hier kam er mit unter Terrorverdacht Einsitzenden zusammen und saugte ungefiltert deren Auslegung auf. Hier hing er vor allem an den Lippen eines Mithäftlings, der bereits für den IS in Syrien gekämpft hatte und nach seiner Rückkehr verhaftet worden war. Es sei sehr schön dort, und man könne seine Religion ausleben, soll ihm der Rückkehrer erzählt haben. Damit war in Ismail offenbar der Terror-Virus implantiert.

Es war die Zeit (2015), zu der unter anderem vom KURIER an Hand konkreter Beispiele aufgedeckt wurde, dass in den Gefängnissen Häftlinge von anderen radikalisiert werden. Die Justiz tat die Probleme damals mit einem Schulterzucken ab, man achte ohnehin auf eine Trennung von Insassen mit ähnlicher Gedankenwelt.

Als Ismail nach 14 Monaten entlassen wurde, "war auf einmal jeder religiös" (wie er sagt) und man ging gemeinsam jeden Tag in die inzwischen aufgelöste Moschee am Wiener Praterstern. Hier hörte er von einem Prediger, sie sollten alle nach Syrien gehen, man brauche dort alle Muslime. Fünf Monate nach seiner zweiten Haftentlassung suchte Ismail im Internet nach Propagandamaterial des IS und verbreitete es weiter. Er plante eine Reise zur Terrormiliz nach Syrien und wurde ein drittes Mal verhaftet. Wegen Teilnahme an einer terroristischen Vereinigung wurde der 17-Jährige zu 34 Monaten Haft verurteilt, seine Volljährigkeit erlangte er im Gefängnis.

Arabisch

Im Interview mit Studienautor Aslan sagt Ismail, dass er dem IS-Terror inzwischen abgeschworen habe. An seiner radikalen Auslegung des Islam hält er aber fest und hat mit Hilfe eines arabischstämmigen Mithäftlings begonnen, die arabische Sprache zu lernen. Alle zwei bis drei Wochen kommt ein Imam zum (im Koran vorgeschriebenen) Freitagsgebet in die Justizanstalt, einen Austausch mit diesem pflegt Ismail laut seinen Angaben aber nicht.

Laut dem islamischen Gefängnisseelsorger Ramazan Demir werde (mittlerweile) streng auf eine Trennung zwischen IS-Gefährdern und Gefährdeten geachtet, "außer man weiß nicht, dass jemand extremes Gedankengut verfolgt." Das Justizministerium verweist auf ein seit 2015 laufendes De-Radikaliserungsprogramm im Strafvollzug: Es gibt speziell geschulte Justizwachebeamte, individuelle Vollzugspläne und Präventionsmaßnahmen durch ein multiprofessionelles Team.

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