Unterwegs in den Bergen: Wenn der Gamsbock bläddert
Rund 270.000 Tiere hat Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in seinem Leben erlegt. Seine tausendste Gams hier im Nationalpark Kalkalpen, im Sengsengebirge, am Weg zum hohen Nock (1.963 Meter). Hundert Jahre später ist Gebietsbetreuer Rudolf Grall auf seinen Spuren unterwegs. Ausgestattet mit Rucksack und Pirschstecken geht es in der Finsternis bergauf. Nur das kleine Licht seiner Stirnlampe zeigt Stock und Stein. Auch er sucht die Gams – jedoch nicht, um sie zu jagen, sondern um sie bei der Brunft zu beobachten.
Wie viele der Tiere im 20.000 Hektar großen Gebiet des Nationalparks leben, weiß man nicht genau.
„Wir haben so viel Wald, da kann man sie nicht zählen“, sagt Grall, der sich leise zwischen den Bäumen fortbewegt. Ungehört bleibt er für die Gämsen nicht: „Die wissen, dass ich komm’. Gämsen sehen, hören und riechen gut.“
Sonnenaufgang
Einige Höhenmeter später ist Grall dann dort, wo er sein möchte, in einem Kar – gerade rechtzeitig zum Sonnenaufgang. Und damit erwachen auch die Gämsen. Denn nachtaktiv seien diese nicht.
Eine Gams mit ungeübtem Auge auf dem mit Latschen und Felsen durchsetzten Kar zu suchen, gleicht jedoch der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Grall erkennt seine Tiere hingegen sofort. Ein schwarzer Punkt in der Felswand. Das ist eine. Nein. Das sind zwei. Eine Gämse mit ihrem Kitz. „Ein halbes Jahr alt“, sagt Grall nach seinem Blick durch den Gucker. In etwas mehr als sechs Monaten werden einige Kitze mehr herumlaufen. „Von November bis Anfang Dezember ist nämlich Gamsbrunft.“
Während das restliche Jahr über Geißen und Böcke getrennt leben, steigen die Böcke den Geißen während dieser Zeit nach. Es wird um die Herzensdame geworben, indem sie ihre Größe demonstrieren: Sie zeigen die „Breitseite“ (sie drehen sich also seitlich), richten ihren Gamsbart (bis zu 24 Zentimeter lange Haare entlang des Rückens) auf und heben den Kopf, um ihren gelben Kehlfleck zu entblößen. Rivalen jagen sie mit Karacho die Felsen hinunter. „Und sie bläddern“, sagt Grall. Auf nichtweidmännisch: Sie machen mit dem Maul Furzgeräusche.
All das zeigen gerade zwei Böcke rechts von Grall eindrucksvoll vor, auch wenn diese bei der Brunft noch keine Rolle spielen. „Die sind noch zu jung und üben.“
Wann dann die Befruchtung ist? „Wenn die Geiß stehen bleibt“, erklärt Grall. Hat alles geklappt, wirft die Geiß meist ein bis zu drei Kilo leichtes Kitz. „Eine Mehrlingsgeburt ist selten.“ Oft wirke es aber so, denn Geißen machen Gebrauch vom „Kindergartensystem“, bei dem eine auf mehrere Kitze aufpasse, während die anderen „äsen“, also fressen.
Klimawandel
Die Gämsenpopulation im Nationalpark sei stabil, so Grall. Zu verdanken sei das dem Wald, der Schutz bietet, etwa vor dem Klimawandel. Der führe anderswo zu schlechterer Futterqualität und somit zu schwächeren Nachkommen. Zudem kämen Parasiten durch höhere Temperaturen auch vermehrt in höheren Lagen vor.
Aber auch der Einschnitt in den Lebensraum mache den Gämsen zu schaffen. „Die Wanderer, die nicht auf den markierten Wegen bleiben, und die Paragleiter, die ihre Schatten werfen, drängen die Tiere zurück.“ Am besten sei, sich langsam in den Bergen fortzubewegen und sich für seine Umgebung Zeit zu nehmen. So wie Grall, der den Blick wieder durch den Gucker richtet und dem Naturschauspiel gespannt zusieht.
Das Tier: Die Gams ist eine Ziegen-Art. Ihr Horn besteht wie Fingernägel aus verhärtetem Eiweiß. Das Tier wirft das Horn nicht ab, es wächst jährlich nach – etwa, wie wenn man Eistüten übereinander stülpt. Eine Geiß wiegt 30, ein Kitz bis zu 20 und ein Bock 50 Kilo. Zwei Meter hoch und sechs Meter weit können sie springen. 200 Mal schlägt ihr Herz pro Minute.
Jagd: Die Regulation (Bejagung) erfolgt im Nationalpark über junges und weibliches Wild.
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