Unglück von Lassing: "Einen Bergmann lässt man nicht im Stich"

"Is' da wer?", schrie ein Arbeiter in den schmalen Schacht, der gerade freigelegt worden war. Auf eine Antwort wagte niemand zu hoffen, suchten die Helfer doch schon seit mehr als einer Woche nach den elf Männern, die unter Tag in dem Bergwerk eingeschlossen waren.
Doch die Antwort kam: "I bin's, da Georg!" Das war Georg Hainzl, jener damals 24-Jährige, dessen Rettung aus 60 Metern Tiefe als das "Wunder von Lassing" bekannt werden würde.
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Am Montag jährt sich das größte Grubenunglück der österreichischen Nachkriegsgeschichte zum 25. Mal.

Georg Hainzl, gerettet nach neun Tagen
Eine Generation ist seither vergangen. Lassing im obersteirischen Ennstal hat gelernt, mit der Vergangenheit zu leben. "Das Unglück gehört für uns zur jüngeren Geschichte", überlegt Bürgermeister Engelbert Schaunitzer (ÖVP). "Wir alle im Ort wissen ja, was passiert ist. Wir fahren ja fast täglich an der Binge vorbei."
Binge, das ist der korrekte bergmännische Fachausdruck für den Bereich, den Medien später als Krater bezeichneten: Als am 17. Juli 1998 Georg Hainzl in die Grube einfuhr, kam es zu einem Erdrutsch, er wurde zu Mittag in 60 Meter Tiefe eingeschlossen.
Zehn Männer suchten
Neun Kumpel aus Lassing und ein Bergbauingenieur aus Wien, der vom Semmeringsondierstollen kam, fuhren in die Grube ein, um die Unglücksstelle zu sichern und nach Hainzl zu suchen.
17. 7. 1998: Georg Hainzl, 24, wird in 60 Meter Tiefe eingeschlossen. Kumpel fahren in die Grube, doch an der Oberfläche bilden sich Risse, ein Krater entsteht, die Straße bricht weg. Weitere zehn Bergleute sind verschüttet, sie waren in 140 Meter Tiefe
18. - 25.7. 1998: Sondierungsbohrungen ergeben keine Hinweise auf Überlebende, die Arbeiten stehen vor dem Abbruch
26. 7. 1998: Eine der letzten Bohrungen erreicht Georg Hainzl
17. 8. 1998: Die Rettungsarbeiten werden offiziell eingestellt
28.6. 2000: Der Ex-Werksleiter und Ex-Berghauptmann werden wegen fahrlässiger Gemeingefährdung verurteilt, rechtskräftig am 20. 3 2003. Zwei Jahre Haft, davon acht Monate unbedingt, für den Werksleiter, sechs Monate bedingt für den Berghauptmann. Im Prozess hört man, dass der Abbau zu nahe am Talgrund erfolgte und 1998 der Großteil der Abbaufläche keine Genehmigung hatte
25. 5. 2002: Die Gedenkstätte wird eingeweiht
Doch etwas stimmte nicht: Die Straße neben dem Talkumwerk bekam erst Risse, dann brach sie weg. Es bildete sich ein Krater, der sich mit Wasser und Schlamm füllte und dann zwei Häuser mit nach unten zog. Zwei Stunden vor Mitternacht hörten Angehörige und Journalisten, die sich um die Unglücksstelle versammelt hatten, einen Knall, dann Stille - die von einem Schrei durchbrochen wurde: "Da sind noch welche unten!"
Jene zehn Männer, die zur Rettung Hainzls in die Grube gefahren waren, wurden ebenfalls eingeschlossen. Vermutlich bereits gegen 19 Uhr. Die Rettungskräfte vermuteten sie auf 140 Meter Tiefe.
Tonnen von Schlamm brachen damals in die Stollen ein. Zeugen erinnern sich, schon tagsüber gesehen zu haben - die Erde gab nach. Doch die Kumpel fuhren dennoch mehrmals in die Grube ein, um zu helfen.
Die Katastrophe
Als die zehn weiteren Männer verschüttet wurden, begann der zweite Teil der Katastrophe, jener, der chaotischer, unkoordinierter verlief. Es gab keine Angaben, wo sich das Einbruchloch befand, da - wie sich später im Strafverfahren herausstellen sollte - zu nahe an der Oberfläche abgebaut worden war und die Aufzeichnungen nicht stimmten. Hektisch wurde versucht, eine funktionierende Einsatzleitung aufzubauen, doch es gab Kompetenzstreitigkeiten zwischen Behörden, das Medieninteresse überforderte auch viele offizielle Stellen.
"Alle sind tot"
Für die Angehörigen der Opfer gab es kaum psychologische Hilfe. Die Kriseninterventionsteams, die heute bei Unglücksfällen zur Unterstützung eilen, entstanden erst aus den Erfahrungen mit Lassing. Im Juli 1998 aber saßen die Eltern, Ehefrauen, Geschwister der verschütteten Bergleute mitten unter Medienleuten bei improvisierten Pressekonferenzen vor einem Gasthaus und mussten hören, dass die Kamerafahrten nur Schlamm zeigten, es keine Klopfsignale gab und ein Experte die Hoffnung aufgab: "Ich glaube, dass alle tot sind".
Wenige Tage danach wurde Georg Hainzl lebend geborgen.
Nach seiner Rettung wuchs die Hoffnung, auch die anderen zehn Männer zu finden. Doch die Bohrungen zeigten nur Schlamm und Wasser. Am 17. August 1998 wurden die Rettungsarbeiten eingestellt, eineinhalb Jahre später auch der Plan, die Opfer zu bergen.
Stilles Gedenken
Heute ist der Talkumabbau längst stillgelegt, die zehn Todesopfer wurden nie geborgen. Eine Gedenkstätte dort, wo sich 1998 der Krater gebildet hatte, wurde 2002 eingeweiht. Dort gedenken die Angehörigen und Freunde am Montag in einer Betstunde, die sie selbst organisiert haben, berichtet Bürgermeister Schaunitzer. Ein offizielles Gedenken der Gemeinde gibt es nicht, auch schon vor fünf Jahren nicht, zum 20. Jahrestag: Das war so von den Familien gewünscht und erbeten - stilles Erinnerung statt medialen Trubels.
Nicht im Stich lassen
Das personifizierte Wunder von Lassing lebt zurückgezogen noch in der Gemeinde, Georg Hainzl blieb seiner Heimat trotz der Geschehnisse verbunden. Andere Familien sind weggezogen, sprechen mag niemand mehr gerne über das Unglück. Vor fünf Jahren gab zuletzt einer der Kumpel, der ebenfalls zur Rettung einfuhr und nur wenige Minuten aus den Stollen kam, bevor alles zusammenbrach, ein rares TV-Interview: Er erinnerte sich, niemand habe ihn aufgefordert, nach dem Vermissten zu suchen. Er habe es dennoch getan, freiwillig: "Einen Bergmann lässt man nicht im Stich."
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