Tschetschenen in Wien: "Wir haben das Überleben in den Genen"

Tschetschenen in Wien: "Wir haben das Überleben in den Genen"
Der Hannovermarkt ist ein Fixpunkt des tschetschenischen Lebens in Wien.

„Sie fragen jetzt bestimmt gleich nach dem Prügelvideo“, sagt Ruslan. „So eine Scheißaktion.“ Ruslan, 16, steht gegen eine Markthütte gelehnt am Hannovermarkt im 20. Wiener Gemeindebezirk, Zigarette in der Hand. Er habe sich geärgert, als er das Video auf Facebook sah, sagt er. Wie nacheinander junge Frauen auf die 15-Jährige Patricia einschlugen. Wie sie ein junger Mann am Ende zwei Mal hart im Gesicht trifft. Ein Tschetschene namens Abu, fanden Facebook-Nutzer bald heraus.

„Der Abu“, sagt Ruslan. Er kenne ihn nicht persönlich. Er ist der Freund eines Freundes eines Freundes. Aber solche Geschichten sprechen sich schnell herum. Ruslan (Name geändert, Anm.) ist ebenfalls Tschetschene. „Die Sache juckt mich“, sagt er. „Das ist ein Landsmann, also ist es unser Problem.“

Es ist längst nicht mehr nur ihr Problem. Wieder einmal machte eine Gewalttat Schlagzeilen, in die Tschetschenen verwickelt waren. Die Liste der Vorfälle ist lang, darunter Schlägereien, Erpressungen, Bandenbildung. Bis vergangenen Juli zogen laut Innenministerium mindestens 287 Personen aus Österreich in den Dschihad nach Syrien und in den Irak – oder hatten zumindest die Absicht, es zu tun. Rund 40 Prozent waren Tschetschenen.

Auch in der Community selbst ist der Zustand der eigenen Jugend Dauerthema. Die Sorge wächst, besonders bei jenen, die ihr Leben in Österreich als zweite Chance nützen wollen. Sie sind die andere Seite dessen, was als "die Tschetschenen" subsumiert wird. Das Image ist jedenfalls schon im Keller.

Mehr Infos: Tschetschenen in Österreich: Die missglückte Integration

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Im tschetschenischen Supermarkt

Iman ist wütend. Die 21-Jährige steht an der Kassa eines tschetschenischen Supermarkts am Rande des Hannovermarkts. „Die Vorfälle mit den Jungen regen mich auf, weil dadurch Vorurteile entstehen und alle in einen Topf geworfen werden“, sagt sie. „Aber ich bin auch wütend auf die Tschetschenen, die nichts tun wollen. Die, die glauben, dass sie ein Leben lang Mindestsicherung beziehen können und der Staat sie versorgt.“

Iman ist ein bisschen anders. Heute hilft sie an der Kassa im Lam-Berg aus, so heißt der moderne, hell erleuchtete Supermarkt, den ihr Vater vor eineinhalb Jahren eröffnet hat. Den größeren Teil ihrer Zeit verbringt sie aber in Hörsälen und Bibliotheken. Iman studiert Pharmazie und Ernährungswissenschaften. Sie hat die Matura, ihr Deutsch ist perfekt. "Ich habe Glück gehabt", sagt sie. Glück, dass sich ihre Volksschullehrerin mehrmals pro Woche am Nachmittag Zeit nahm, mit dem tschetschenischen Flüchtlingsmädchen Deutsch zu lernen. Glück auch, dass ihr Vater sie bei allem unterstützte.

Sie werde, so erzählt Iman, in ihrem tschetschenischen Bekanntenkreis als „Phänomen“ gesehen. Die meisten Mädchen in ihrem Alter hätten bereits geheiratet und Kinder bekommen. „Da ist das Leben als Hausfrau vorprogrammiert." Während ihre Freundinnen zu Dates gingen, paukte Iman für die Schule. Dass sie auf der Uni zwei weitere junge Tschetscheninnen kennenlernte, hat sie „total verblüfft“.

"Wir sind sehr religiös"

Denn auch in Österreich herrscht in der tschetschenischen Community noch überwiegend ein konservatives Familienbild vor. Der Vater wird als Beschützer und Ernährer der Familie gesehen. Obwohl sie arbeiten gehen will und von ihrem Ehemann verlangen würde, bei der Erziehung der Kinder mitzuhelfen, sieht Iman das ähnlich. Das liegt auch an großen Rolle der Religion im Leben vieler Tschetschenen. „Wir sind sehr religiös“, sagt Iman, die zu ihrer Bluse mit Blümchen-Muster und dem Jeans-Rock ein schwarzes Kopftuch trägt.

Tschetschenen in Wien: "Wir haben das Überleben in den Genen"

„Im Islam sind viele Beziehungen vorgegeben“, sagt Hasan Tschalaev, Imans Onkel, der im Supermarkt seines Bruders mitarbeitet. Aber so wie Iman ist er froh, hier leben zu können. Seit fünf Jahren wohnt er in Wien. Schon in Tschetschenien war der Mittvierziger mit Brille und leicht angegrautem Bart im Gemüsehandel tätig.

Sein Bruder eröffnete vor über einem Jahrzehnt das erste russische Lebensmittelgeschäft am Hannovermarkt. Als Zentrum tschetschenischen Lebens in Wien gilt zwar Favoriten. Doch wer jenseits des Donaukanals und in Transdanubien wohnt, kommt hierher einkaufen, wo es Wurst, Käse, Konserven, geräucherten Fisch und Süßigkeiten aus der Heimat gibt.

Die Tschalaevs haben sich als Unternehmer ein neues Leben aufgebaut. „Wir versuchen den Jungen zu erklären, dass wir uns integrieren sollen und dankbar sein müssen, für die zweite Chance, die wir hier erhalten“, sagt Hasan Tschalaev.

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"Sie repräsentieren unsere Heimat"

Doch die Gewalt unter tschetschenischen Jugendlichen ist nicht zu übersehen. „Das tut weh“, sagt Tschalaev. „Das sind Landsleute, die unsere Heimat und Kultur repräsentieren.“ Die Älteren führen das aggressive Verhalten meistens auf die Kriegserfahrungen zurück. „Die Jungen haben als Kinder Dinge gesehen, die kein Kind sehen sollte. Wir glauben, es hat auch damit zu tun“, sagt er. „Uns ist es wichtig, die Kinder zu unterstützen. Wir gehen mit ihn zum Ringen, um die Aggression herauszukriegen. Die ist einfach da, die müssen sie rauslassen.“

Aber die Mittel, vor allem die finanziellen, um sich in größerem Maßstab um Jugendliche zu kümmern seien in der Gemeinde begrenzt, sagt Tschalaev.

Von Wien nach Mossul

Seit etwa drei Jahren hat die tschetschenische Gemeinde ein noch größeres Problem. Zahlreiche Jugendliche haben sich nach Syrien oder in den Irak aufgemacht, um für islamistische Terrormilizen wie dem islamischen Staat zu kämpfen. Als das ruchbar wurde, nahm Tschalaev seine eigenen Söhne beiseite. Er habe ihnen erklärt, was da unten wirklich passiert, „damit sie nicht von den Sozialen Medien beeinflusst werden", sagt er. Radikale Rekrutierer würden russischsprachige Soziale Netzwerke nützen, um an tschetschenische Jugendliche heranzukommen. Seine Söhne blieben in Wien.

Mittlerweile sei die Welle von Jungen, die in den Dschihad ziehen wollen, auch abgeebbt. „Seitdem die ersten Leute zurückgekehrt sind und erzählt haben, was dort passiert, fährt fast niemand mehr hin“, behauptet Tschalaev. Tatsächlich ist bei der Zahl der Dschihadisten seit 2015 zurückgegangen. Dafür gibt es aber mehrere Erklärungen. Die Attraktivität des IS hat nach größeren Gebietsverlusten abgenommen. Und die Reise ins Kriegsgebiet ist heute auch schwieriger, als sie es einmal war.

Schweres Erbe

Aber warum ziehen so viele Tschetschenen in den Dschihad? „Ihnen wurde eingeredet, dass die Leute da unten ihre Hilfe bräuchten, so wie wir damals in Tschetschenien Hilfe gebraucht haben. Dass sie Kinder und Familien schützen könnten", sagt Tschalaev. "Auch wenn das nichts rechtfertigt.“

Tschalaev erzählt von der 200-jährigen tschetschenische Geschichte von Gewalt und Vertreibung. Den Kriegen gegen die Russen, der Deportation fast des gesamten Volks nach Kasachstan unter Stalin. In den Güterwaggons starb laut Schätzungen bis zu ein Viertel der Bevölkerung (siehe Kasten unten). Ab den Neunzigern schließlich die Tschetschenien-Kriege.

„Die Gewalt spielt heute noch eine Rolle“, sagt auch seine Nichte Iman. „Ich kann mich noch an die Flucht und die Zeit davor erinnern, aber bei anderen war es noch viel schlimmer. Wir haben immer noch das Überleben in den Genen.“

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Man erkennt sich

Draußen am Hannovermarkt bläst Ruslan den Rauch seiner Zigarette in den Nieselregen. Ein Mann Mitte Dreißig geht ohne aufzuschauen an ihm vorbei. „Salam aleikum“, sagt Ruslan. „Aleikum salam“, erwidert der Mann. Ruslan kennt ihn nicht. Er hat den Mann noch nie gesehen. „Er ist Tschetschene“, sagt er. Woher er das weiß? „Naja, das erkennt man eigentlich gleich. Die Kinnform, der Bart, der etwas gelangweilte Blick", sagt Ruslan und lacht.

Auch Ruslan wurde in seiner Klasse sofort als Tschetschene erkannt. Er besucht die Handelsschule. Mit den Österreichern verstehe er sich gut, sagt er. „Ich mag die Leute." Er würde trotzdem lieber am Land wohnen. „Das liegt mir mehr als die Stadt.“ Hollabrunn, zum Beispiel. Als Kind war er mal dort.

Die tschetschenische Gemeinde in Österreich hat mit ihrem Ruf zu kämpfen. Spätestens, seit auf Facebook ein Video auftauchte, in dem eine 15-Jährige von mehreren anderen Jugendlichen verprügelt wird – darunter mindestens ein junger Tschetschene. Davor machte eine Massenschlägerei zwischen Tschetschenen und Afghanen Schlagzeilen. Von den 260 Personen in Österreich, die unter Dschihadismus-Verdacht stehen, haben laut Verfassungsschutz rund die Hälfte tschetschenischen Hintergrund. Die Liste lässt sich fortführen. Sind Tschetschenen also schwerer zu integrieren als andere Gruppen?

"Jede Community hat einen Rucksack, aber bei den Tschetschenen ist er besonders groß", sagt Politologe Thomas Schmidinger, Herausgeber des Sammelbands "Dem Krieg entkommen?" über Tschetschenen in Österreich aus dem Jahr 2008 (Verein Alltag Verlag). Traumatisierung sei unter Flüchtlingen kein Alleinstellungsmerkmal. "Aber bei den tschetschenischen Jugendlichen sind fast alle traumatisiert", sagt Schmidinger. Und nicht nur die Kriegserfahrung der Jungen, auch die tschetschenische Geschichte der vergangen Jahrhunderte liefert mögliche Erklärungen für die aktuellen Schwierigkeiten.

Seit mehr als 200 Jahren stehen die Tschetschenen im Konflikt mit dem übermächtigen Nachbarn Russland. Höhepunkt war der Genozid unter Stalin im Jahr 1944, als mehr oder weniger das gesamte tschetschenische Volk, rund 400.000 Menschen, in Viehwaggons nach Kasachstan deportiert wurden. Wie viele Menschen genau ums Lebens kamen, ist nicht mehr genau zu rekonstruieren. Die Schätzungen gehen bis zu 25 Prozent.

Erst unter Chruschtschow, zwölf Jahre später, durften die Tschetschenen in die Heimat zurückkehren – darunter die Großeltern der heutigen Jugend. Sie fanden ihre Dörfer verlassen oder von russischen Siedlern bewohnt vor.

"Da hat sich die Notwendigkeit der Wehrhaftigkeit zu einem gewissen Grad eingeschrieben. Im Männlichkeitsbild und im kulturellen Selbstverständnis, dass die Welt gegen die Tschetschenen ist und man sich dagegen wehren muss", sagt Schmidinger. Auch im unpolitischen Bereich ist das zu sehen: dass Kampfsport der Volkssport ist, zum Beispiel."

Dass die Tschetschenen eine der höchsten Geburtenraten in der Sowjetunion hatten, sei wiederum darauf zurückzuführen, dass die Tschetschenen zahlenmäßig "aufholen" mussten.

Die Tschetschenien-Kriege der Neunziger und ihre Folgen führten schließlich zur Fluchtbewegung nach Europa. Österreich beherbergt mit rund 30.000 Personen eine der größten tschetschenischen Gemeinschaften in Europa.

Die tschetschenische Community ist aber alles andere als der eng vernetzte, einheitliche Block, als die sie gerne dargestellt wird. Politisch ist sie in mehrere Strömungen aufgesplittert. Neben den alten nationalistischen Strömungen gibt es die Anhänger des aktuellen Moskau-treuen Machthabers Ramsan Kadyrow sowie des national-dschihadistischen Kaukasus-Emirats.

Thomas Schmidinger gibt aber zu bedenken, dass über die hiesige tschetschenische Gemeinde relativ wenig bekannt ist. "Es gibt in Österreich einige wenige Privatinitiativen, die sich mit Tschetschenen auseinandersetzen, aber kaum Community-Work", sagt er. "Das Problem ist auch, dass es keinerlei organisierte Sammlung von Wissen und Weitergabe von Wissen über die Community gibt. Deshalb ist es schwierig, gezielte Maßnahmen zu setzen, die die Situation verbessern könnten."

(Moritz Gottsauner-Wolf)

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