Star-Kriminalpsychologe erklärt: Was Menschen zu Mördern macht
In einer Woche feiert Thomas Müller, Kriminalpsychologe und Autor, einen runden Geburtstag. Ein Interview darüber, warum ihm Menschen, die noch nie darüber nachgedacht haben, einen anderen umzubringen, suspekt sind.
KURIER: Es gibt auf der einen Seite Serienmörder wie Jack Unterweger, Franz Fuchs oder Lutz Reinstrom, die Sie analysiert haben. Und auf der anderen Thomas Müller, Popstar der Kriminalpsychologie. Hätte aus Ihnen nicht auch ein Serienmörder werden können?
Thomas Müller: Es braucht für jeden Menschen, zwei drei Mal im Leben die Möglichkeit, an der richtigen Stelle, zur richtigen Zeit, die richtigen Menschen zu treffen. Wenn ich in Vorlesungen gefragt werde, was einen guten Kriminalpsychologen ausmacht, dann antworte ich immer drei Dinge.
Die da wären?
Erstens: Hausverstand. Ich muss verstehen, dass Blut zwar nach oben spritzen, aber nur nach unten rinnen kann. Die Gesetze des Lebens, das hat Friedrich Schiller schon gesagt, finden Sie nicht in Büchern, sondern auf der Straße. Zweitens: Für mich ist nicht entscheidend, was jemand denkt, sondern wie er denkt. Die vernetzte Betrachtungsweise, dass ich nicht immer von A über B nach C komme, sondern, dass ich manchmal auch einen Umweg machen muss, brauchen Sie in der Kriminalpsychologie. Drittens und das beantwortet vielleicht Ihre Frage: Es braucht das Wissen über den Luxus der Unschuldigkeit.
Was meinen Sie damit?
Dass wir jetzt hier sitzen können und ein Interview machen, dass Sie am Wochenende in den Süden fahren, dass ich mit den Kindern in der Sandkiste spiele, dass wir beide frei sind, ist ein Luxus. Um diesen Luxus von Beginn an zu verstehen, braucht es Sozialisierung, die Möglichkeit, an Krisensituationen zu wachsen sowie ethnische und moralische Werte kennenzulernen. Dafür braucht es zum richtigen Zeitpunkt, zur richtigen Stelle, die richtigen Menschen, die Ihnen den Weg geben. Das macht es vielleicht aus, dass ich heute Kriminalpsychologe bin und nicht in einem Hochsicherheitsgefängnis in den Vereinigten Staaten sitze.
Der Milwaukee Kannibale: Jeffrey Dahmer
Jeffrey Dahmer ermordete zwischen 1978 und 1991 siebzehn junge Männer, die überwiegend aus der Homosexuellenszene von Milwaukee stammten. Er lockte die Opfer dafür in seine Wohnung, betäubte und erwürgte sie. Danach verging sich an ihren Leichen und bewahrte Teile der Toten, wie ihre Schädel, in seiner Wohnung auf.
In einigen Fällen soll Dahmer auch Teile der Opfer gegessen haben, was ihm seinen Beinamen, der „Kannibale von Milwaukee“ einbrachte. Thomas Müller lernte Dahmer kennen, als er als junger Profiler seinen Mentor, Robert Ressler, den Begründer der Verhaltensforschungsabteilung beim FBI, nach Dahmers Verhaftung in den Hochsicherheitstrakt zur Vernehmung des damals 32-Jährigen begleiten durfte. Netflix widmete Dahmer erst kürzlich eine zehnteilige Serie.
Der Häfenpoet: Jack Unterweger
Er war ein bereits verurteilter Mörder, galt als Paradebeispiel der Resozialisierung und Liebling der Wiener High Society: Jack Unterweger. Als dieser 1990 ohne jegliche Auflagen entlassen wurde, begann einer der berühmtesten Fälle in der österreichischen Kriminalgeschichte, der bis heute fasziniert.
Insgesamt 13 Frauenmorde soll der gebürtige Steirer Jack Unterweger verübt haben. Darunter eine Serie an Prostituiertenmorden in Prag, Graz, Lustenau, Wien und Los Angeles. Die Opfer wurden dabei stets mit demselben Knoten stranguliert. Müller war es, der half, den mutmaßlichen Prostituiertenmörder zu überführen. 1994 wurde Unterweger, nicht rechtskräftig, wegen neunfachen Mordes verurteilt. Er erhängte sich in der Nacht in seiner Zelle. Mit exakt demselben Knoten, der auch bei der Strangulation der Prostituierten verwendet wurde.
Das Bombenhirn: Franz Fuchs
Am 3. Dezember 1993 begann der Terror in Österreich mit einer Briefbombenserie, bei der vier Menschen getötet und 15 zum Teil schwer verletzt wurden. Pfarrer August Janisch und ORF-Moderatorin Silvana Meixner waren an jenem Freitag die beiden ersten Opfer. Weitere folgten bis Dezember 1996, unter ihnen der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk oder Polizist Theo Kelz, der durch eine Rohrbombe beide Hände verlor. In Oberwart im Burgenland versuchten später Peter Sarközi, Josef Simon, Karl Horvath und Erwin Horvath, ein Schild zu entfernen: „Roma zurück nach Indien“. Eine darunter montierte Rohrbombe tötete die Männer. Im Herbst 1995 wurde die Soko Briefbomben gebildet. Thomas Müller spielte bei der Erstellung des Täterprofils von Fuchs die zentrale Rolle: 16 von 18 Aussagen, die er über Fuchs im Vorfeld traf, sollten stimmen.
Aber ist dieser fehlende Luxus der Unschuldigkeit auch der Auslöser, warum ich ein Bedürfnis entwickle zu morden?
Nein, ist er nicht. Aber wenn wir über Kapitalverbrechen reden, dann möchte ich Ihnen nach der Analyse von etwas mehr als 1.000 Tötungsdelikten Folgendes sagen: Ich bin heute davon überzeugt, dass es keinen Menschen gibt, der nicht unter den widrigsten Umständen einen anderen Menschen umbringen kann. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und sage, derjenige, der noch nie darüber nachgedacht hat, einen Menschen umzubringen, ist mir suspekt. Aber vom blitzenden Gedanken des Hasses, zur Überlegung es vielleicht doch zu tun, bis zur Umsetzung der Tat, liegt ein ewig langer Weg. Und wie Sie diesen beschreiten, hat etwas mit dem Luxus der Unschuldigkeit zu tun.
Wer hat Sie auf Ihrem Weg am meisten beeinflusst?
Die ersten fünf Lebensjahre sind sicher entscheidend. Ich hatte ein abwechslungsreiches Leben mit vier Geschwistern. Wir haben das Leben in einer guten Familie kennengelernt. Der Schritt dann in die Bildung, das war der zweite Luxus, indem ich eine gute Schulbildung hatte und mit ausgedehnten Reisen, andere Kulturen kennenlernen durfte. Ich habe Dinge erlebt, da hatte ich noch nicht einmal die Matura. Und der Schritt mit 17 zur Polizei war das Nächste. Weil mir klar war, da draußen wartet keiner auf mich und sagt super, jetzt bist du fertig.
Sie haben 1993 den kriminalpsychologischen Dienst im Innenministerium aufgebaut. Was auch Zweifler auf den Plan rief. Ist das heute anders?
Wie das heute ist, kann ich nicht beurteilen, da ich diesen Bereich nicht mehr leite. Aber ja, es wird heute noch genauso Zweifler geben. Doch genau diese Zweifler haben mir damals die Möglichkeit gegeben, besser zu sein. Wir werden ja nicht weise, indem wir ständig Erfolg haben. Wir werden vielleicht weise, indem wir lernen an unserem Misserfolg zu wachsen. Den musste ich damals immer wieder einstecken. Und wenn Sie es so haben wollen, war das vielleicht eine der größten Luxussituationen in meinem Leben – die Fähigkeit zu besitzen, bei Misserfolgen immer und immer wieder die Gelegenheit zu haben, aus diesem Misserfolg etwas Positives zu ziehen. Darum kann ich jetzt beruhigt meinen 60. Geburtstag feiern.
Thomas Müller
wurde am 4. August 1964 in Innsbruck geboren. Dort war er zunächst als Polizist tätig und studierte zusätzlich Psychologie. Ab 1993 baute er im Innenministerium den kriminalpsychologischen Dienst auf
Profiler
Müller absolvierte seine Ausbildung zum Profiler in Amerika. Einer seiner Ausbildner und Mentoren war Robert Ressler, der beim FBI die Abteilung für Verhaltensforschung aufbaute
Sind Sie zufrieden?
Auf der einen Seite ja. Auf der anderen gibt es noch so viele Fragestellungen, die mich interessieren. Ich will nicht sagen, dass mir die Zeit ausgeht, aber ich bin jeden Tag zufrieden, mit dem, was ich tun kann. Und vor allem bin ich nach wie vor neugierig.
Diese Neugierde und der Versuch, zu verstehen, warum Mörder so handeln, wie sie handeln, hat Sie ihr Leben lang begleitet. Was macht das mit einem selbst?
Einerseits etwas sehr Positives. Ich bin sehr bescheiden geworden. Wenn Sie Menschen gegenüberstehen, die 20 Jahre lang in einen Keller eingesperrt waren, dann wundern Sie sich manchmal, worüber sich Leute aufregen können. Andererseits muss man verdammt aufpassen, wenn man in diesem Bereich arbeitet und ständig hinter die Kulissen blickt, dass man nicht zynisch wird, und beginnt über den Dingen zu stehen. Es ist ein täglicher Kampf sich immer wieder zu sagen, dass man nicht so wichtig ist, um das eigene Ego auszuschalten.
Wenn man sich ständig mit dem Bösen auseinandersetzt, verliert man nicht irgendwann den Glauben ans Gute?
Wenn Sie in ihrem Leben den Luxus der Unschuldigkeit erlebt haben, kann dies auch dazu beitragen, gerade an das Gute zu glauben. Und eben nicht den Kopf in den Sand zu stecken und zu sagen, die ganze Welt ist so schrecklich. Denn etwas möchte ich in meinem Leben nie sein: Opfer. Wenn Sie es so wollen, können Sie mich gerne als kriminalpsychologischen Täter sehen.
Gibt es einen Täter, den Sie gerne noch analysieren würden?
In meinen Seminaren werde ich oft gefragt, wo man lernt, Menschen zu beurteilen. Gehen Sie in Wien einen Kaffee neben einem Zebrastreifen trinken, dann werden Sie rasch bemerken, dass es keine zwei Leute gibt, die gleich über den Zebrastreifen gehen. Soll heißen: Das Beobachten von Menschen gibt Ihnen irgendwann die Möglichkeit, ihre Individualität zu erkennen. Umso länger Sie beobachten, umso eher werden Sie Gemeinsamkeiten entdeckten. Wenn Sie diese Gemeinsamkeiten finden, können Sie Schlussfolgerungen ziehen. Wenn jemand immer auf die gleiche Art und Weise penibel genau, zwanghaft seine Bomben baut, dann sagen Sie mir, ob es die große kriminalpsychologische Schlussfolgerung ist, davon auszugehen, dass er seine Bücher auf den Millimeter genau einreiht.
Aber schaffen Sie es überhaupt noch, Menschen nicht zu analysieren?
Ja! Es tut mir leid, aber ich kann einen Salat essen, ohne mir zu denken: So, wie der den Salat macht, das könnte ein Hinweis sein.
Was wünschen Sie sich zum Runden?
Zeit für sich selbst, dass man sich nicht so wichtig nimmt, die Fähigkeit über sich selbst zu lachen und Leute, die mutig genug sind, einem die Rückmeldung zu geben, dass das, was man gerade gemacht hat, ein Topfen war. Sonst wird man irgendwann im Alter egozentrisch und stur.
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