Es ist eigentlich eine einfache Frage, doch der ÖBB-Mitarbeiter am Info-Point des Wiener Westbahnhofs schaut, als hätte man sich erkundigt, wo es hier zur nächsten Pferdetränke geht. Dann denkt er kurz nach, kratzt sich am Kopf und sagt: „Eine Telefonzelle? Na, sowas gibt’s hier schon lange nicht mehr“.
Der Siegeszug der Handys hat wie überall auf der Welt auch in Österreich dafür gesorgt, dass die Telefonzellen bzw. "öffentliche Sprechstellen" nach und nach aussterben. Während es 2016 laut Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage etwa 16.000 Stück gab, betrieb A1 2018 noch rund 12.100. Anfang der 90er-Jahre soll es um ein Vielfaches mehr gegeben haben. Wie viele genau, das kann niemand mehr sagen. Die Telekom möchte auf KURIER-Anfrage auch keine Angaben über die Umsätze, die mit der Telefonie an den öffentlichen Sprechstellen gemacht werden, tätigen, gibt aber bekannt, dass sie mit den Jahren stark zurückgegangen sind. Auch wo sich die Standorte dieser Telefonzellen befinden, will die Telekom der Öffentlichkeit nicht verraten. „Betriebsgeheimnis“, heißt es.
Der Grund, warum die Telefonzellen noch nicht ganz aus dem Landschaftsbild verschwunden sind, ist die sogenannte Universaldienstverordnung. Sie sah ursprünglich vor, dass die Anzahl der öffentlichen Sprechstellen immer auf dem Stand des 1. Jänner 1999 bleiben muss. Seit die Verordnung novelliert wurde, muss nur noch eine "flächendeckende Versorgung" mit öffentlichen Sprechstellen garantiert sein. Die Telekom hat seither kaum benutzte Sprechstellen etwa nach Umbauarbeiten nicht mehr errichtet.
Den seltenen Besuchern auf der Spur
Wer soll schon in Zeiten des Smartphones noch Telefonzellen benutzen? „Hauptsächlich Jugendliche mit Wertkartenhandys, Handybesitzer mit leerem oder defektem Akku, Menschen mit geringem Einkommen oder auch Touristen“, erklärt die Telekom.
Nachdem es am Westbahnhof keine Telefonkabine mehr geben soll, startet die Suche nach den letzten Telefonzellen-Benutzern in der U-Bahn Station Schwedenplatz. Dort gibt es zwei Telefone.
Ob man damit telefonieren möchte, ist eine andere Frage. Beim Abheben des Hörers blättert weißes, spröde gewordenes Klebeband ab, mit dem der Hörer irgendwann einmal notdürftig repariert wurde. Das rote Telefon klebt auf eine seltsame Weise und in der Kabine haben sich weniger talentierte Graffiti-Sprayer verwirklicht.
Obwohl man es ihnen nicht ansieht, sind beide Apparate betriebsbereit. Die Telekom überprüft alle 12.100 Telefone regelmäßig – durch 12.100 Mal läuten lassen. In Fachsprache von A1 erklärt, heißt das: "Alle 24 Stunden meldet sich das Endgerät - wenn die Telefonzelle anruft, dann passt alles. Sollte die Zelle nicht automatisch anrufen, gibt es eine Fehlermeldung. Dann wird der Techniker informiert, fährt raus, und repariert das Gerät.“
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Nachdem sich zwei Stunden lang niemand dem klebrigen roten Telefon genähert hat, kommt endlich ein Teenager-Pärchen auf die Kabine zu. „Mit wem habt ihr telefoniert? Warum habt ihr kein Handy?" Lauter brennende Fragen. Doch dann machen die beiden eine leichte Kurve und biegen zum Automaten neben der Telefonzelle ab, bei dem man Handy-Zubehör kaufen kann. Sogar ein richtiges Handy um 37 Euro gibt es. Der Bursch wirft Geld ein, zieht etwas aus dem Automaten, das wie Kopfhörer aussieht, nimmt seine Freundin an der Hand und sie gehen wieder.
Es wird Zeit für einen Standortwechsel, zu einer der österreichweit etwa 30 Telefonzellen mit Ladestationen für E-Fahrzeuge. „Telefonzellen bilden aufgrund ihrer Kommunikationsanbindung und der oftmals günstigen und zentralen Lage ideale Voraussetzungen für das Auftanken von E-Fahrzeugen“, teilt A1 mit. Vielleicht ist bei diesen sogenannten "Stromtankstellen" mehr los.
Eine von ihnen befindet sich auf der Lassallestraße in WienLeopoldstadt. Hier telefoniert zwar auch niemand, in der prallen Sonne steht aber einsam und verlassen ein weißer Nissan per Kabel mit der Telefonzelle verbunden und lädt vor sich hin.
"Das Laden vergessen"
Wieder vergehen Stunden, doch weder der Fahrer des Autos, noch irgendjemand anderer, der sich für die Telefonzelle interessieren würde, ist zu sehen. Dann biegt er plötzlich um die Ecke: ein alter Mann, der sehr langsam aber bestimmt auf die Telefonzelle zugeht und dann tatsächlich zu telefonieren beginnt. Endlich. Wen er denn angerufen habe? „Meine Tochter“, antwortet er und erklärt: „Ich habe schon ein Handy, aber ich habe vergessen, es aufzuladen.“ Die Nummer seiner Tochter könne er auswendig, das sei kein Problem. Zum Abschied tippt er sich mit zwei Fingern an die Stirn.
Um auf den nächsten Telefonzellen-Benutzer nicht wieder sechs Stunden warten zu müssen, scheint es im Hinblick auf die Angaben der Telekom schlau, die Beobachtung an einem „neuralgischen Punkt“ fortzusetzen, an dem viele Touristen vorbeikommen. Am Hauptbahnhof gibt es eine öffentliche Sprechstelle.
Tatsächlich taucht dort nach nur kurzer Wartezeit ein junger Mann mit dem Handy in der Hand auf und tippt die Nummer, die er am Display sieht, am Tastenfeld des Telefons ein. Am anderen Ende meldet sich allerdings niemand. Der junge Mann wird wütend und knallt den Hörer wieder in die Gabel. In gebrochenem Deutsch erzählt er, er sei kein Tourist und habe ja auch ein Handy, allerdings habe er sein Guthaben aufgebraucht und zum öffentlichen Telefon müssen, um seinen Bruder anzurufen.
Nachdem der junge Mann gegangen und eine weitere Stunde ohne Telefonbenutzer verstrichen ist, ist es Zeit, die Beobachtung abzubrechen. Ein ganzer Tag und nur zwei Telefonzellen-Besucher, plus ein angeschlossenes Auto ist eine schwache Ausbeute.
Der Heimweg führt noch einmal über den Westbahnhof beziehungsweise den Bahnhofsvorplatz. Und da steht sie dann doch, mehr als zwei Meter hoch in der Abendsonne - die Telefonzelle, die es hier angeblich gar nicht mehr geben soll und von der der ÖBB-Mitarbeiter am Morgen nichts gewusst hat. Sie befindet sich hier wahrscheinlich schon seit vielen Jahren und wird schlicht übersehen – nutzlos geworden und aus der Wahrnehmung der Passanten ausgeblendet.
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