Hunderte vorwiegend deutschsprachige Eltern haben ihre Kinder in Covid-Zeiten aus der Schule genommen und unterrichten selbst.
21.11.21, 05:01
Aus Mailand ANDREA AFFICATI
Die genaue Zahl der Südtiroler Schüler, die heuer im Homeschooling sind, ist konfus. Medien schreiben von 600, der Landesrat spricht von 575, und die Eltern der Kinder geben keine Auskunft.
Es handelt sich dabei vor allem um Schüler im Grundschul- und Unterstufenalter, die zum Großteil in den Tälern leben. Wo sie unterrichtet werden, ist auch ungewiss, auf Bauernhöfen und in Gaststätten, heißt es.
Recht auf Unterricht
Ein italienischer Journalist hat deswegen den Begriff „Katakomben-Schulen“ wieder ausgegraben. Diese gab es im Faschismus. Benito Mussolini hatte sich vorgenommen, Südtirol zu italienisieren, und deshalb verboten, auf Deutsch zu unterrichten. Die deutschsprachige Bevölkerung trickste die Verordnung aus, indem sie die Kinder am Vormittag in die italienische Schule schickte und am Nachmittag in geheimen Stätten auf Deutsch unterrichtete.
„Die italienische Verfassung erlaubt es den Eltern, ihre Kinder selber zu unterrichten“, bestätigt der Südtiroler Schullandesrat Philipp Achammer, er hebt aber hervor, dass es nicht sein kann, „die Schüler wegen den Covid-Vorschriften aus der Schule zu nehmen. Kinder haben das Recht, den normalen Unterricht zu besuchen.“
Misstrauen
Laut der Neuen Südtiroler Tageszeitung sollen die besagten Eltern „ausschließlich zur No Vax-, No Green Pass-, No Test- und No Mask-Bewegung zählen“. Es ist nicht leicht, mit diesen Eltern Kontakt aufzunehmen. Das Misstrauen gegenüber Journalisten ist enorm. Dennoch gelang es dem KURIER unter Wahrung der Anonymität, mit Eltern zu sprechen und Hintergründe zu erfahren.
Erste Frage: Voriges Jahr waren 125 Kinder im Home schooling, heuer sind es vier Mal so viele, warum? Antwort: Das habe nichts mit den 3-G Regeln zu tun. Unter den Eltern gebe es sehr wohl auch Geimpfte. Der Grund sei ein anderer, nämlich das „Unterrichtschaos“ im vergangenen Schuljahr.
Im Herbst 2020 sei es dem Bildungsministerium in Rom viel mehr um „Schulbänke mit Rädern gegangen, als um neue Filteranlagen in den Klassen“.
Ur-Aufgabe
Außerdem seien die Unterrichtsstunden gekürzt sowie Eltern, Kinder und Lehrer während der Lockdowns allein gelassen worden. Deswegen hätten sich diese Eltern entschlossen, ihre Kinder selbst zu unterrichten oder dafür private Lehrkräfte anzuheuern. Auch Freunde und Bekannte, die über eine spezifische Fachkenntnis verfügen und den Kindern den Lernstoff oft sogar besser vermitteln könnten, hätten ausgeholfen.
Die Kinder zu Hause zu unterrichten habe außerdem einen weiteren sehr positiven Nebeneffekt erzeugt; viele Eltern hätten sich wieder auf die ihre „ureigene Aufgabe“ besonnen, nämlich sich „selbst mit ihren Kindern zu beschäftigen, anstatt sie an Krippen, Kitas und Schulen abzugeben“.
Familienstruktur
Auf die Frage, warum sich hauptsächlich deutschsprachige Schüler im Homeschooling befinden, heißt es, das liege in der unterschiedlichen Familienstruktur. Viele italienische Familien seien aus Arbeitsgründen nach Südtirol gezogen, während der Rest der Angehörigen anderswo in Italien lebt. Die deutschsprachigen Südtiroler könnten sich hingegen auf Großfamilien stützen.
Neue Regeln
Obwohl die italienische Verfassung den Eltern das Recht auf Hausunterricht einräumt, hat die Landesregierung angesichts der hohen Zahl der Schüler im Elternunterricht Anfang Oktober im Schnellverfahren neue Regeln dazu verabschiedet. Die bisher und im Rest Italiens weiter gültigen sehen vor, dass die Schüler im Homeschooling am Ende der achten Klasse eine Prüfung ablegen, um in die Oberstufe aufzusteigen. In den Jahren dazwischen ist ein Übertrittsgespräch nur dann erforderlich, wenn sie wieder zum normalen Unterricht angemeldet werden.
Die neuen Regeln in Südtirol sehen ein verpflichtendes Beratungsgespräch für die Eltern sowie Unterrichtsbesuche zur Kontrolle des Lernfortschrittes vor.
Noch nicht geklärt ist allerdings, ob diese neuen Regeln schon für das laufende Schuljahr greifen.
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