Ehemaliges SOS-Kinderdorf-Kind über Missbrauch: "Alle wussten es“

In Panama City war die Frau als Mädchen sexuellen Übergriffen ausgesetzt (Symbolfoto).
Der Leiter eines SOS-Kinderdorfs in Panama hat sich jahrelang an Elmira Diaz* vergangen, ehe sie mit Zutun Helmut Kutins nach Tirol kam. Die Organisation soll die Frau über Jahrzehnte zum Schweigen gedrängt haben.

„Es war wie ein Paradies. Wir haben uns wie Prinz und Prinzessin gefühlt“, erzählt Elmira Diaz* (Name von der Redaktion geändert) über die erste Zeit in einem neu gebauten SOS-Kinderdorf in Panama City, in dem sie und ihr Bruder 1982 untergebracht werden. Die Jahre zuvor waren die Geschwister in einer Pflegefamilie, in der sie Gewalt erfahren haben und kaum das Haus verlassen durften. Der Kontrast im Kinderdorf hätte größer kaum sein können. „Ich war gerade 11 geworden. Es gab Spielsachen. Ich konnte Klavier und Gitarre spielen und so viel lesen wie ich wollte“, erinnert sich die 54-Jährige.

Abgründe tun sich auf

Sie kennt die lichten Seiten, die SOS-Kinderdörfer ihren Schützlingen bieten können – aber auch die dunkelsten. 

Sie weiß aus eigener Erfahrung, um die Abgründe, die sich in der Organisation rund um den Globus seit Jahrzehnten immer wieder auftun. Als sich etwa drei Jahre nach Ankunft der Geschwister die Führungsstrukturen ändern, verwandelt sich das Paradies in eine Hölle. Der neue Dorfleiter beginnt, sich an dem jungen Mädchen zu vergreifen. Diaz wehrt sich, meldet die Vorfälle.

Eine – ebenfalls neue – Führungsfigur von SOS-Kinderdorf International in Panama soll sich die Vorwürfe angehört haben und „hat mir nicht geglaubt“, erzählt Diaz. „Zur Strafe“ sei sie gezwungen worden, vor allen Kindern und Mitarbeitern zu erklären, dass sie gelogen habe. Dabei sei sie nicht das einzige Opfer gewesen. „Alle haben es gewusst“, ist sie überzeugt. Nicht nur in Panama.

Hilferufe nach Österreich

Das missbrauchte Mädchen lässt sich nicht mundtot machen, schreibt Briefe, in denen sie um Hilfe bittet, nach Österreich. Also dorthin wo wie auch in den Jahrzehnten danach alle Fäden der Organisation zusammenlaufen. „Es gibt in Innsbruck dicke Akten dazu, was alles in Panama vorgefallen ist, die ich selbst gesehen habe“, erzählt Diaz.

„Es gibt in Innsbruck dicke Akten dazu, was alles in Panama vorgefallen ist.“ 

von Elmira Diaz

ehemaliges Kinderdorf-Kind

Tatsächlich sei irgendwann der SOS-Verantwortliche für Lateinamerika gekommen und habe Fragen gestellt. „Aber man hat uns gesagt, dass wir nichts sagen dürfen, sonst wirft man uns hinaus“, erzählt die heute in Deutschland lebende Frau. Die Drohung habe ihr vor allem mit Blick auf ihren jüngeren Bruder Angst gemacht.

Als Teenager beginnt sie, zu rebellieren. „Als ich 18 war, haben sie mir gesagt, dass ich meine Sachen packen soll.“ Aufgenommen wird Diaz ausgerechnet von jener Führungskraft, die ihr keinen Glauben geschenkt haben soll. „Dafür bin ich ihr auch dankbar. Aber sie hat ihren Job nicht richtig gemacht. Sie hat den Direktor nicht gemeldet.“

Diaz nimmt ihr Schicksal in die eigene Hand. Als Helmut Kutin, in jener Zeit längst Präsident von SOS-Kinderdorf Österreich und international, Panama besucht, überreicht ihm die junge Frau einen auf Deutsch geschriebenen Brief. „Ich wollte in Österreich in der Hotellerie arbeiten. Er hat gesagt, ich soll drei Jahre für die Organisation arbeiten, dann kann ich kommen.“ Diaz tut, wie ihr geheißen. Und tatsächlich erhält die junge Frau 1993 eine Lehrstelle in einem Tiroler Nobelhotel. „Das war ein neues Leben“, erinnert sich die Auswanderin, die aber schnell wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt wird.

Zum Rapport bei Kutin

Mitte der 1990er-Jahre habe man sie vom Hotel in die Zentrale nach Innsbruck bestellt und befragt. Auslöser offenbar: erneute Missbrauchsfälle in Panama, dokumentiert in einem internen Bericht. Die Landesleitung sei nach Tirol zitiert und von Kutin zusammengestaucht worden, erinnert sich Diaz. Die Führungskraft bleibt aber im Amt.

Die vom SOS-Dachverband 2021 eingesetzte Untersuchungskommission ISC hat in ihrem 2023 vorgelegten Bericht zu Missständen in Kinderdörfern in der ganzen Welt – der seit Donnerstag auch den österreichischen Strafverfolgungsbehörden vorliegt – ihren Ermittlungen in Panama ein eigenes Kapitel gewidmet.

Die Geschichte von Diaz, die sich selbst an die Kommission gewandt hat, ist darin ebenfalls dokumentiert. Es wurden aber auch zahlreiche Gespräche mit Mitarbeitern und hohen Funktionsträgern zu Vorwürfen von physischer und sexueller Gewalt geführt. Die Kommission attestiert eine „Kultur von Angst, Täter-Opfer-Umkehr und Vertuschung“ in den SOS-Kinderdörfern des Landes. Alleine im Fall von Diaz hätten zumindest sieben Mitarbeiter – einige von ihnen in hochrangigen Funktionen der internationalen Organisation – identifiziert werden können, die von den Missbrauchsvorwürfen wussten.

Doch statt den Täter, gegen den sich Diaz als Jugendliche zu wehren versucht hatte, den Behörden zu melden, sei dieser in ein anderes Kinderdorf versetzt worden – wo er sich erneut an Mädchen vergangen haben soll. „Das Schlimmste ist, wenn einem nicht geglaubt wird“, sagt Diaz im Rückblick.

Bei Protesten in Panama wurden Schilder gegen Kindesmissbrauch in dir Höhe gehalten.

In Panama gab es mehrere Skandale rund um Kindesmissbrauch.

Während ihrer Lehre in Tirol lernt Diaz ihren späteren Mann kennen, geht mit ihm nach Deutschland. Als ihre gemeinsamen Kinder ungefähr in dem Alter sind, in dem sie zur Zeit der Übergriffe war, bricht alles wieder auf. Burnout. Psychologische Betreuung – bis heute.

Diaz gibt die Vorwürfe nicht nur Mitte der 1990er-Jahre in Innsbruck zu Protokoll, sondern konfrontiert über die Jahrzehnte immer wieder Verantwortliche der Organisation, wie sie erzählt. Und immer wieder sei ihr gesagt worden: „Wenn ich an die Presse gehe, wird das den Kindern schaden. Aber ich schweige nicht mehr.“ Seit zwei Jahren versuche sie mittlerweile ihre Akte von SOS-Kinderdorf zu bekommen, dringt aber nicht durch.

„Man hat mir immer wieder gesagt, wenn ich mit der Presse rede, schadet das den Kindern.“

von Elmira Diaz

ehemaliges Kinderdorf-Kind

In Panama hat bereits 2022 eine lokale Führungsfigur von SOS-Kinderdorf die Geschichte von Diaz ohne ihre Zustimmung publik gemacht und sie geoutet. „Ich war so wütend“, sagt sie. In der Folge meldeten sich aber auch zahlreiche weitere Missbrauchsopfer: SOS-Kinderdorf International sprach in einer Reaktion auf den Skandal von 51 Personen. Man bedauerte und sicherte Hilfe zu.

Unterstützung gefordert

Aber die kommt nicht ausreichend an, sagt Diaz, der es vor allem ein Anliegen ist, dass die Opfer in Panama psychologische Hilfe erhalten. „Damit wir endlich alle abschließen können.“ Sie selbst erhalte Therapie über die Krankenkasse. Geld will sie keines. Aber Gerechtigkeit. „Es hat sich noch nie jemand schriftlich bei mir entschuldigt“, klagt die 54-Jährige an.

Nach allem, was ihr widerfahren ist, fällt das Urteil über SOS-Kinderdorf dennoch differenziert aus. „Es gibt dort auch wundervolle Mitarbeiter.“ Angesichts dessen, dass sie selbst von der Organisation zum Schweigen gedrängt und bis in die jüngste Vergangenheit unter Druck gesetzt worden sein soll, verwundert es, dass sie sich dennoch sogar bei Spendengalas engagiert hat, wie sie erzählt.

„Ich dachte, es ist meine Pflicht, dass es den Kindern bei SOS-Kinderdorf gut geht“, erklärt sie und ist überzeugt, dass das Konzept an sich ein gutes wäre – wenn sich die Hilfsorganisation an ihre eigenen Grundsätze halten würde. Aber daran scheiterte sie bis zuletzt regelmäßig.

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