Einmal Firma und zurück: Lehrpersonen wechseln den Job

Einmal Firma und zurück: Lehrpersonen wechseln den Job
Lehrpersonen hätten keine Ahnung von der Wirtschaft, lautet ein häufiger Vorwurf. Das Projekt Seitenwechsel will das ändern.

Barbara Villgratter steht seit vier Monaten nicht mehr im Klassenzimmer. Denn die HAK-Professorin hat für ein Jahr den Arbeitgeber gewechselt und ist für ein Jahr bei den Wiener Linien beschäftigt. Ermöglicht hat diesen Jobtausch das Projekt Seitenwechsel.

Erwin Greiner, der die Idee aus Bayern nach Österreich gebracht hat, erläutert die Motivation dahinter: „Mich hat als Direktor und Lehrer immer gestört, dass von Lehrpersonen erwartet wird, dass sie die Jugendlichen auf eine Welt außerhalb der Schule vorbereiten sollen, ohne selbst Erfahrung in der Berufswelt gemacht zu haben. Das Projekt soll genau diese Praxiserfahrung ermöglichen.“

Die Idee: Das Projekt Seitenwechsel ermöglicht es Lehrpersonen, für ein Jahr in Betrieben zu arbeiten:

Das Prozedere: Interessierte Lehrkräfte aus ganz Österreich, die in der Sekundarstufe 1 oder 2 unterrichten, können sich via seitenwechsel.at bis 16. Februar  bewerben und für die verpflichtenden Online-Infoabende  anmelden.

Angestellt: Seitenwechsel bringt  Unternehmen und  Lehrkraft zusammen. Diese wird für  die Zeit vom Schuldienst karenziert und erhält so lange das Gehalt  vom neuen Arbeitgeber.

Villgratter hat diesen Schritt in die Praxis gewagt. Was jetzt anders ist? „Der Tag ist nicht so getaktet – ich kann eher entschieden, wann ich zu arbeiten beginne und wann ich welche Aufgaben erledige“, erzählt sie.

Villgratter unterstützt das Talentmanagement

Statt Jugendliche zu unterrichten, hat sie nun andere Aufgaben, bei denen sie aber ihr Wissen und ihre Erfahrung einbringen kann. Die beschreibt Benjamin Rödig, Leiter des Lehrlingsmanagements bei den Wiener Linien, so: „Barbara Villgratter arbeitet an der Entwicklung unserer Ausbildungskonzepte. Aktuell entwickeln wir das Talentmanagement für unsere Lehrlinge weiter, wofür die Kollegin mittlerweile die Projektleitung übernommen hat.“

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Dazu vernetzt sich Villgratter selbstständig in ganz Österreich zum Thema. „Barbara erarbeitet hier für die Wiener Linien Konzepte, wie wir Talente und Stärken unserer Lehrlinge fördern können. Die Ergebnisse werden nicht nur hier, sondern bei allen Unternehmen der Wiener Stadtwerke einfließen“, sagt Rödig. Und das macht Barbara Villgratter sehr gut. „Sie ist für unser Unternehmen ein Riesenprofit“, lobt er.

Auf kurier.tv: Erwin Greiner, Barbara Villgratter und Benjamin Rödig über Seitenwechsel

Checkpoint mit Erwin Greiner, Barbara Villgratter, Benjamin Rödig - Seitenwechsler

Wieder zurück in die Schule

Mit ihrem Wissen und ihrer Praxiserfahrung wird Villgratter nächstes Schuljahr wieder in die Klassenzimmer zurückkehren. Als Lehrerin, die die Fächer Englisch, Geografie und wirtschaftliche Bildung sowie auch Persönlichkeitsbildung unterrichtet, kann sie da sicher viel mitnehmen.

„Im ersten Jahr in der Schule bekommen die Seitenwechsler und -wechslerinnen noch einen Coach zur Verfügung, der ihnen hilft, das Wissen aus der Wirtschaft in die Schule zu übertragen“, erläutert Erwin Greiner. Schließlich sollen nicht nur die Lehrpersonen, sondern auch die Schulen von dem Austausch profitieren.

In den vergangenen drei Jahren haben 19 Lehrpersonen so die Seiten gewechselt: „Es ist also nicht so, dass wir massenweise Kolleginnen und Kollegen aus den Schulen abziehen“, entgegnet Greiner den Kritikern, die meinen, das Projekt sei in Zeiten des Lehrermangels kontraproduktiv.

Lehrermangel

Zur Einordnung: „Wir haben 90.000 Lehrkräfte, die in der Sekundarstufe 1 unterrichten. Wenn das System zusammenbricht, weil jährlich fünf bis zehn davon ein Jahr nicht darin arbeiten, haben wir ohnehin ein Problem“, stellt Greiner fest.

Einige der teilnehmenden Lehrkräfte hätten übrigens auch ohne das Projekt den Schritt aus der Schule gewagt, weiß Greiner aus Gesprächen: „Seitenwechsel ist eine organisierte Möglichkeit, für ein Jahr auszusteigen. Die Allermeisten kehren mit frischen Kräften an die Schule zurück.“ Und das mit dem Wissen, dass sie nicht nur in der Schule, sondern auch in der Wirtschaft erfolgreich sind.

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