Dass Jugendliche für Tage oder Wochen von der Schule ausgeschlossen werden, kommt in Österreich immer häufiger vor – das zeigt sich an den Suspendierungen, die sich innerhalb von vier Jahren fast verdoppelt haben.
Das heißt nicht zwangsläufig, dass Gewalt und Fehlverhalten zunehmen – vielmehr sind Lehrkräfte sensibler für das Thema geworden. Eine Rolle mag dabei die Erkenntnis spielen, dass klare Regeln entscheidend für den Lernerfolg sind. Das zeigt das Beispiel London, wo mit einem Bündel an Maßnahmen erreicht wurde, dass die Leistungen gerade der abgehängten Schülerinnen und Schüler besser wurden – zentraler Erfolgsfaktor war die Disziplin.
London ist auch Vorbild für Felix Stadler.
Wenn Felix Stadler um 7.45 Uhr in die Klasse kommt, sind die meisten Kinder schon eine Viertelstunde da. So haben sie Zeit, die Jacke auszuziehen, das Handy abzugeben und Hefte, Stifte, Geodreieck sowie Laptop auf den Tisch zu legen. Sobald Felix Stadler die Klasse betritt, stehen alle auf und begrüßen ihn.
Das morgendliche Ritual klingt nach konservativer Privatschule. Doch weit gefehlt. Es ist das Klassenzimmer der 2A der Mittelschule Kleine Sperlgasse im 2. Wiener Bezirk. Kaum ein Kind spricht zu Hause Deutsch, und wohlhabend kann man die Familien, aus denen die Kinder kommen, auch nicht nennen. „Gerade diese Kinder brauchen klare Strukturen und Regeln, damit sie vom Unterricht profitieren können“, ist Stadler überzeugt. „Denn Rituale sorgen dafür, dass man sich um Nebensächliches keine Gedanken machen muss – wer das Heft auf dem Tisch liegen hat, kann sofort mit dem Lernen beginnen.“ Und das beginnt jeden Morgen mit Wiederholungen in spielerischer Form: Alle klappen ihren Laptop auf, um ein Quiz mit fünf Fragen zu machen: „Es ist jeweils Stoff von der vorigen Stunde, der vorigen Woche und dem vorigen Monat dabei“, sagt Stadler
Das hat zwei Vorteile: „Diese Art der Wiederholung führt am nachhaltigsten zum Lernerfolg. Und die Kinder müssen sich die ersten Minuten schon mit dem Stoff beschäftigen, sodass sie gleich konzentriert sind – so wird verhindert, dass wertvolle Unterrichtszeit verloren geht.“
Viele von Stadlers Unterrichtsmethoden basieren auf Doug Lemovs Studien, die er in seinem Buch: „Unterrichten wie ein Champion“ zusammengefasst hat. Der Pädagoge hat in den USA untersucht, welche Schulen in sozial abgehängten Gegenden die Schüler zu überdurchschnittlichen Leistungen gebracht haben. Ergebnis: Überall führten die gleichen Unterrichtstechniken zum Erfolg.
Zurück in die Klasse, wo das Thema Graphen auf dem Stundenplan steht. Beispiel: Wie viel Grad hat das Meer in den Monaten Jänner bis Dezember? Das sollen die Schülerinnen und Schüler von einer Kurve ablesen. „Wie viel Grad hat es im Mai?“, fragt Stadler. Er wartet ein bisschen ab und nimmt nicht sofort den ersten dran, sondern wartet einen kurzen Moment. „Eins, zwei .... 16, 17“, zählt er die aufzeigenden Hände. „Kommt, das wissen doch mehr.“ So nimmt er möglichst viele Kinder mit. Was auffällt: Während der Stunde stört fast niemand. „Wir lassen schon kleine Vergehen, Beleidigungen oder Störungen nicht zu“, erläutert der Lehrer. Sanktionsmaßnahmen sind z. B. Ermahnungen durch die Lehrkraft oder ein Gespräch beim Direktor.
Wenn die Mutter das Handy von der Schule holt
„Wenn ein Kind dauernd das Handy im Unterricht nutzt, wird die Mutter in die Schule gerufen, damit sie das Handy abholt – die wird dem Kind klar machen, dass das nicht noch einmal vorkommen wird“, erzählt Stadler, der es schätzt, dass in der Schule klare Regeln kommuniziert und auch umgesetzt werden. Was ihm sehr wichtig ist: „Das muss immer mit Wertschätzung geschehen.“
Entscheidend sei, dass man früh eingreife: „Wenn ich etwas lange laufen lasse und mir es als Lehrer plötzlich zu viel wird und ich das Kind dann entnervt anschreie, ist das weder wertschätzend noch sonderlich effektiv.“ Dass es klare Strukturen gibt, heißt übrigens nicht, dass es keine modernen Unterrichtsformen gibt – flipped classroom gibt es auch hier. Heißt: Die Kinder müssen als Hausübung ein Video anzuschauen und danach Aufgaben machen. „Diese sind sehr klar definiert, damit jeder weiß, was er zu tun hat.“ Und, so gibt der Pädagoge zu: Es ist nicht immer so diszipliniert. Ab der 4. Stunde lässt die Konzentration nach.
Stadler macht sein Job Spaß. Als Grüner Gemeinderat müsste er nicht unterrichten: „Doch mir haben die Kinder gefehlt“, sagt er über sein Jahr Pause. Wer seinen Unterricht besucht, versteht warum.
2003 wurde die „London Challenge“ gestartet, weil die Schulen bei nationalen Vergleichstests extrem schlecht abgeschnitten haben. Heute sind sie die besten in England. Die Reform umfasste ein Bündel an Maßnahmen: Die Qualität des Unterrichts wurde verbessert – die Lehrkräfte wurden nachqualifiziert. Die Schulleiter bekamen eine zentrale Rolle, auf die Einhaltung von Regeln wurde streng geachtet
1.000 Suspendierungen gab es im Schuljahr 2018/19 an Österreichs Schulen. 2022/23 waren es bereits mehr als 1.900. In Wien wurden in diesem Jahr 814 Ausschlüsse von 664 Kindern und Jugendlichen gezählt
AHS Rahlgasse mit Maßnahmenkatalog
Dass Strukturen essenziell sind, sagt auch Heidi Schrodt – langjährige Direktorin der AHS Rahlgasse in Wien. In London hat sie erlebt, wie gelungener Unterricht aussieht: „Disziplin ist dabei ein wichtiger Faktor.“
Regeln waren ihr in der Rahlgasse wichtig: „Wir haben mit den Schulpartnern einen achtstufigen Regelkatalog erarbeitet.“ Der reichte von Gesprächen bis zu einer Disziplinarkommission, in der Lehrer-, Eltern- und Schülervertreter saßen. Gab es keine Einigung, führte das zu einer Disziplinarkonferenz, wo der Ausschluss eines Schülers beantragt werden konnte: „Das passierte nur einmal“, erinnert sie sich.
Immer gab es Wiedergutmachungen: „Als einige Schüler ständig Mist vor eine Ordination geschmissen haben, mussten sie beim Putzen helfen“, erzählt sie. Konsequenzen forderten Schüler dann auch für die Lehrpersonen ein, die öfters zu spät kamen.
Lehrer müssen Vorbild sein
Die Lehrperson müsse Vorbild sein – denn sie ist für den Lernerfolg zentral. Schüler hören in London: „Du kannst es, du kannst es noch besser machen – und ich bin deine Lehrperson, die dir dabei hilft, dorthin zu kommen, wo du hinwillst.“ Wobei Schulen helfen, Ziele zu entdecken: „Jede Volksschule kooperiert mit einer Uni – diese Möglichkeit war gerade für die Kinder in sogenannten Brennpunktschulen vorher eine unbekannte Welt.“
Doch nicht nur Leistungsbereitschaft und Disziplin führen laut Schrodt zum Erfolg: „Schulen müssen mehr Autonomie erhalten, damit sie selbst entscheiden können, wofür sie ihre Ressourcen nutzen. So braucht es z. B. mehr Ganztagsangebote. Mehr noch: Schulen müssen sich vernetzen und brauchen Unterstützung – bei uns werden sie mit ihren Problemen allein gelassen“, beklagt Heidi Schrodt.
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