Ab Montag wird die Wiener S-Bahn-Stammstrecke bis Ende 2027 umfassend baulich saniert sowie technisch modernisiert – und dafür ab Herbst 2026 zwischen Praterstern und Hauptbahnhof für 14 Monate gesperrt, zwischen Rennweg und Hauptbahnhof sogar für 16 Monate.
Judith Engel ist im Vorstand der ÖBB-Infrastruktur für das Schienennetz und damit auch das S-Bahn-Upgrade verantwortlich. Sie erklärt die Hintergründe des Großprojekts.
KURIER: Frau Engel, warum ist das alles notwendig?
Judith Engel: Wir haben zwischen Meidling und Floridsdorf die dichtest befahrene Strecke Österreichs mit 700 Zügen und 250.000 Fahrgästen pro Tag. In Betrieb genommen wurde sie 1962, Teile der Strecke sind aber noch deutlich älter, etwa die Bögen zwischen Praterstern und Wien-Mitte. Zudem installieren wir das modernste Zugsicherungssystem ETCS Level 2, wodurch wir die Zugsfolge verdichten und in der Hauptverkehrszeit einen 2,5-Minuten-Takt anbieten können. Und wir verlängern zahlreiche Bahnsteige, um mit längeren Nahverkehrs- sowie den neuen Doppelstockzügen stehen bleiben zu können. All das erhöht das Platzangebot und natürlich auch den Komfort für unsere Fahrgäste deutlich.
Ohne 14-monatige Vollsperre wäre das nicht gegangen?
Eingriffe auf dieser Strecke sind sehr schwierig, weil diese Zugsdichte nur sehr schwer unterbrochen werden kann. Darum werden die Arbeiten gebündelt. Und es gibt auch bauliche Gründe, zum Beispiel können die Bogenbrücken nicht halbseitig abgetragen werden. Das würde technisch nicht funktionieren. Zudem endet die Strecke ja weder in Meidling noch in Floridsdorf. An diesem Abschnitt hängen auch die Nahverkehrsäste über die Grenzen Wiens hinaus. Und auch dieser Verkehr muss berücksichtigt werden, weil der kann ja nicht einfach aufhören und überall wenden, wo wir dann gerade eine Baumaßnahme haben. Das ist wirklich eine sehr komplexe Angelegenheit.
Können Sie schon einen Einblick in die Ersatzverkehrslösungen geben?
Da gibt es schon sehr eng abgestimmte Konzepte, die noch weiter verfeinert werden. Während der Sommersperren wird es grundsätzlich einen Schienenersatzverkehr geben, zusätzlich werden die Wiener Linien die ÖBB-Tickets anerkennen. Für die große Sperre ab September 2026 wird es Taktverdichtungen geben, insbesondere auf den U-Bahn-Linien oder etwa beim O-Wagen, aber auch neue Streckenführungen von Straßenbahnen.
Bezahlen die ÖBB den Wiener Linien diese Mehrleistungen?
Für solche Ersatzverkehre gibt es eigene, sehr komplexe Verrechnungen. Die Verhandlungen laufen unter der Ägide des Klimaschutzministeriums (BMK).
Worin liegt denn die größte technische Herausforderung des Projekts?
Ich würde sagen, die Komplexität liegt in der Baulogistik und der Führung der Verkehrsströme. Da wir mitten in der Stadt sind, gibt es wenig Zeit und wenig Platz, vor allem im 3. Bezirk. Natürlich ist es auch technisch herausfordernd, wir greifen in bestehende Baustrukturen ein, da muss man immer mit Überraschungen rechnen.
Stichwort wenig Zeit und dicht bebautes Gebiet: Wird auch in der Nacht gearbeitet werden?
Es wird sicher punktuell da und dort zu Nachtarbeiten kommen, wir haben die Baustelle aber nicht im 24/7-Durchlaufbetrieb geplant. Generell wird die Baustelle auch als solche wahrnehmbar sein, sowohl optisch als auch akustisch. Das können wir nicht verhindern. Wir tun aber natürlich unser Möglichstes, damit die Anrainerinnen und Anrainer frühzeitig informiert sind und wissen, was passiert. Normalerweise ist dann die Akzeptanz etwas höher.
Wo gebaut wird
Das Kernstück der Arbeiten passiert auf der 13 Kilometer langen Stammstrecke zwischen Meidling und Floridsdorf, das Gesamtprojekt erstreckt sich aber auch auf Süd-, Nord- und Nordwestbahn.
Was gemacht wird
Insgesamt werden 40 km Gleise und 60 km Oberleitung verlegt, 51 Bahnsteige verlängert, 9 Abstell- und Wendeanlagen errichtet, mehr als 100 Bau- und Tragwerke saniert und auf rund 20 km ein neues, digitales Zugsicherungssystem (ETCS Level 2) installiert.
Warum das gemacht wird
Neben mehr Sicherheit und Komfort sollen in Folge durch dichtere Takte und größere Züge um 40 Prozent mehr Sitzplätze zur Verfügung stehen.
Was tun Sie genau?
Es gibt die laufend aktualisierte Webseite s-bahn.wien. Es gibt Infofolder, Planausstellungen, die bereits sehr gut besucht worden sind, und ein Info-Fahrrad. Und wir werden eine Ombudsperson einrichten, die direkt vor Ort sehr detailliert über die jeweiligen Baumaßnahmen vorab informiert, etwa auch darüber, ob es zu Nachtarbeiten kommt. Unsere Erfahrungen zeigen, dass eine laufende Einbindung und Information die Beschwerden stark reduziert. Wenn die Menschen wissen was passiert, warum es passiert und wie lange es passiert, ist es meistens schon wesentlich einfacher. Das zeigt auch der U-Bahn-Bau.
Seit wann laufen eigentlich die Planungen für das S-Bahn-Upgrade?
Solche Projekte entstehen gewissermaßen. So wie das Projekt jetzt daliegt, würde ich den Planungsstart ungefähr 2019 verorten. Wenn man alle Äste und alle Projekte, die damit in Verbindung stehen, miteinbezieht, ergibt sich natürlich ein längerer Zeitraum.
Wie viele Menschen sind involviert?
Wir schätzen es auf etwa 400 Personen, die insgesamt am Erfolg des Upgrades mitarbeiten - ohne die Baufirmen.
Sprechen wir über Geld. Im Rahmenplan 2023-2028 waren die Projektkosten mit etwas über einer Milliarde Euro angegeben. Hält das?
Ja. Natürlich sind auch wir von Kostensteigerungen betroffen, aber wir planen mit Risikozuschlägen, um im Rahmenplan Stabilität zu haben und das gelingt ganz gut. Wir sind mit vielen Projekten sehr stabil unterwegs.
Am Dienstag wurden die Mittel für den Rahmenplan von der Bundesregierung um zwei auf 21 Milliarden Euro erhöht. Wissen Sie schon, wofür Sie dieses Geld verwenden werden?
Das werden wir Ende des Monats bekanntgeben.
Wie ist denn der Stand der Dinge bei der Machbarkeitsstudie für den S-Bahn-Ring?
Es ist geplant, die Ergebnisse der Untersuchung voraussichtlich noch dieses Jahr zu präsentieren.
Ich habe grundsätzlich persönlich keine andere Meinung als beruflich, das wäre ein bisschen schwierig für mich. Ich bin gespannt, was die Machbarkeitsstudie ergibt.
Beim Projekt Verbindungsbahn neu laufen derzeit Einsprüche gegen die UVP. Können Sie abschätzen, wann es eine Entscheidung geben wird?
Nein, leider nicht. Demzufolge werden wir auch erst dann unsere Bau- und Ablaufplanung neu aufsetzen.
Avisiert war der Baubeginn für 2024. Hoffen Sie noch, das einhalten zu können?
Nein. Dafür müssten wir den Bescheid schon haben.
Die ÖBB-Infrastruktur ist ja innerhalb des Konzerns der größte Arbeitgeber. Wie ist die Personalsituation?
Den Generationenwechsel gibt es natürlich auch bei uns, vielleicht sogar ein bisschen mehr als bei anderen Unternehmen. Aber wir bilden über 2.000 Lehrlinge aus und nehmen jedes Jahr zwischen 600 und 700 auf, von denen sehr viele im Unternehmen bleiben. Wenn wir die nicht hätten, würde es uns schlechter gehen. Denn wenn man heute nicht die Fachkräfte ausbildet, dann hat man sie morgen einfach nicht. Und wir haben moderne, vorzeigbare Ausbildungsstätten, auf die man wirklich stolz sein kann, auch international.
Ein hochrangiger Mitarbeiter hat unlängst zum KURIER gesagt, es gebe wegen des Personalmangels einen Wartungsrückstand in der Streckenerhaltung. Stimmt das? Drohen uns bald deutsche Zustände?
Das beantworte ich aus vollem Herzen: Nein, Österreich wird in diesem Punkt nicht Deutschland werden. Mit dem Rahmenplan haben wir im Europavergleich eine wirklich solitäre, optimale Finanzierungssituation, die uns eine sehr langfristige Projektplanung ermöglicht - was dazu führt, dass der Zustand unseres Streckennetzes konstant sehr gut ist.
Also kein Wartungsrückstand.
Ich wüsste nicht wo.
Momentan laufen auch die Arbeiten für das Zielnetz 2040. Ist da alles auf Schiene?
Wir rechnen damit, dass es Anfang nächsten Jahres fertig sein wird und kommuniziert werden kann. Die ÖBB sind hier natürlich mit ihrer Fachexpertise sehr intensiv beteiligt, federführend läuft der Prozess aber beim BMK und er läuft sehr gut.
Halten die bisher kommunizierten Zieldaten bei den großen Tunnelprojekten?
Ja. Wir haben die Koralmbahn nahezu im Finale, da gibt es eine erste, vorgezogene Teilinbetriebnahme ja schon heuer im Dezember. Das hält. Auch für die Gesamtinbetriebnahme im Dezember 2025 steht alles auf Grün. Ein bisschen weiter in der Ferne steht auch die Inbetriebnahme des Semmering-Basistunnel mit 2030 in den Büchern. Und auch beim Brennerbasistunnel gibt es im Moment keine neuen Erkenntnisse.
Mit anderen Worten: Auch das Problemkind Semmering benimmt sich momentan.
Grundsätzlich ist es beim Semmering schon so, dass der Berg uns sagt, wie schnell es vorwärts geht. Aber nachdem wir jetzt wieder einen Tunneldurchschlag feiern konnten, ist wieder ein schönes Stück abgehakt und wir sind tatsächlich bei den letzten paar hundert Metern. Im Moment sind wir sehr zufrieden.
Kommentare