Reportage: Die Menschen hinter der Nadel
Neben der Glastür mit der blickdichten Scheibe befindet sich eine Glocke. Wer Sie drückt, den fordert eine freundliche Stimme zum Eintreten auf. 30- bis 60-mal am Tag schrillt der Klingelton. „Wer zu uns kommt, ist ein komplizierter Fall“, sagt Claudia Scheiber, ärztliche Leiterin des Ambulatoriums für Drogenkranke Klagenfurt.
In zwei Drittel der Fälle sind es Männer zwischen 20 und 30 Jahren, die ihren Weg in das graue Gebäude finden. Ihre Geschichten erzählt Scheiber, sobald man in ihrem in weiß gehaltenen Büro Platz genommen hat. „Menschen, die zu uns kommen, sind manifest abhängig. Meist von Heroin oder Kokain“, sagt die Frau mit den wachen Augen.
Comeback einer schmutzigen Droge
Heroin, jene Substanz, die lange als „schmutzig“ galt, erlebt in Kärnten ein massives Comeback. Neun Menschen starben heuer im Süden Österreichs an Drogen. Erst am Freitag wurde bekannt, dass eine Großmutter in einer Klagenfurter Wohnung ihren leblosen 26-jährigen Enkelsohn aufgefunden hatte. Todesursache: Suchtmittelmissbrauch in Verbindung mit Alkohol und Medikamenten.
„Heroin hat seinen Schrecken in der Szene verloren und wird als Alltagsdroge gehandelt. Hinzu kommt die geografische Nähe zu Slowenien, dort ist Heroin zu Dumpingpreisen erhältlich. Und dann gibt es noch die Bestellung übers Internet“, erklärt ein Drogenfahnder.
Wieso so viele Drogentote in Kärnten?
Schwieriger wird es mit der Erklärung, warum Kärnten offenbar ein Drogenproblem hat. In den ersten sechs Monaten des Jahres waren bereits fast doppelt so viele Drogentote zu beklagen, wie im gesamten Jahr 2020. Damals starben in Kärnten fünf Menschen an Drogen, 2019 waren es 15. Reflexartig taucht jedoch das Jahr 2018 auf, wenn von Drogentoten die Rede ist – damals waren 25 Drogentote zu beklagen. Das beschauliche Bundesland im Süden Österreichs schaffte es hinter Wien auf den unrühmlichen zweiten Platz bei den Drogentoten.
Auf die Frage des Warums gibt es im weißen Zimmer der Drogenambulanz in Klagenfurt keine Antwort: „Wir wissen es nicht“, sagt Scheiber. Die Fälle seien analysiert, Parallelen gesucht worden – doch ein klares Bild ergab sich am Ende nicht.
Schicksale hinter der Sucht
Und so spricht Scheiber über die Menschen hinter den Zahlen. Jene, die dreimal am Tag einen „Schuss“ brauchen, um über die Runde zu kommen. Die in der Drogenambulanz in Substitutionsbehandlung sind. Nicht in einem Programm, darauf legt die Leiterin wert. Dass auch Patienten, die in Substitutionsbehandlung sind, unter den Drogentoten aufscheinen, ist Scheiber bewusst. „Es ist wie bei jeder Sucht. Ein Drittel kommt gut mit der Substitution klar und nimmt keine Drogen, ein Drittel meistert es mittelmäßig und bei einem Drittel geht die Behandlung schief.“
Dies soll in der Drogenambulanz verhindert werden. Wie, zeigt ein Rundgang durch die anderen, ebenso schlicht in weiß gehaltenen Räume: Vorbei an Sozialarbeitern und Psychologen. Mit einem Stopp an der Kinderspielecke im Wartebereich, der Blutabnahme und dem Klo mit dem Sichtfenster. „Wir müssen Harntests unter Sicht machen“, erklärt Scheiber.
Unter Aufsicht werden die Substitutionsmittel in der Drogenambulanz eingenommen. „Wir haben Patienten, die normal arbeiten gehen, jeden Tag. Denen würden sie nicht anmerken, dass sie abhängig sind.“ Und dann gibt es ganze Familien, die in Klagenfurt in Behandlung seien. Und jene, die Scheiber begleitet, seit sie im Jahr 2002 begonnen hat, sich mit dem Thema Sucht und Drogen zu beschäftigen.
Entstigmatisierung
Was sich die Ärztin wünscht? Die Antwort kommt schnell: „Eine Entstigmatisierung und Aufklärung dort, wo sie gebraucht wird. Ich rede von Gesprächen mit Jugendlichen, die eine Alkoholvergiftung hatten, oder in Schulen, in Time-out-Klassen. Dort, wo wir junge Menschen haben, die bereits jetzt Probleme haben, die eine spätere Sucht begünstigen könnten.“
Aber auch im Bereich der Ärzteschaft. In Erinnerung bleibt der Fall einer Kärntner Ärztin, die Patienten viel zu hohe Opiat-Dosen verschrieben hatte. Die Leitlinien für Opiatverschreibungen habe sie nicht gekannt, erklärt die Medizinerin im Prozess. Die Drogenambulanz konnte damals, 2019, nicht alle Patienten der Frau aufnehmen. Grund: Überlastung.
Beim Öffnen der Glastür mit der blickdichten Scheibe wird klar, dass der Andrang auch zwei Jahre später hoch ist. Die Wartereihe vor der Glocke zur Anmeldung ist lang.
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