"Wir können nicht erlauben, dass der Ort eines früheren Vernichtungslagers in einen Ort verwandelt wird, der des Gedenkens nicht würdig ist“, sagte zuletzt Polens nationalkonservativer Premierminister Mateusz Morawiecki. Er sprach aber nicht vom Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau im heutigen Polen, das er gemeinsam mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel besuchte, sondern vom oberösterreichischen KZ Gusen, einem Außenlager des KZ Mauthausen.
Die polnische Botschafterin in Wien, Jolanta Róza Kozlowska, konkretisierte die Kritik: Man habe „Anlass zu großer Besorgnis“, dass kürzlich neu entdeckte Teile des KZ Gusen – „einschließlich des blut- und leidgetränkten Appellplatzes“ – an „gewinnorientierte“ Privateigentümer verscherbelt werde (siehe Infokasten unten).
Die Sache geht aber weit über einen diplomatischen Konflikt hinaus. Es bleibt nämlich die Frage: Gilt das Nachkriegs-Credo „Niemals vergessen!“ auch für die Dutzenden Außenlager der VernichtungslagerMauthausen und Dachau?
Wer denkt an die Opfer dieser KZ?
Theorie und Praxis
Offiziell ist die Antwort einfach: Die staatliche „KZ-Gedenkstätte Mauthausen“ ist per Gesetz dazu verpflichtet, die Zeugnisse von „allen Außenlagern und Orten, an denen Verbrechen“ begangen wurden, zu bewahren und einer „möglichst großen Öffentlichkeit“ zugänglich zu machen.
In der Praxis sieht die Sache anders aus. Es ist allein schon schwierig, einen Überblick aller Lager auf österreichischem Boden zu bekommen. Das privat getragene „Mauthausen Komitee Österreich“ (MKÖ) stellt zwar eine umfangreiche Materialsammlung zu den über 40 früheren Mauthausener Außenlagern zur Verfügung. Für die 11 Dachauer Außenlager auf heimischem Gebiet gibt es jedoch nichts Vergleichbares.
Die GedenkstätteDachau schreibt auf KURIER-Anfrage, diese stünden „unter der Verwaltung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen“ – wie es auch das Gesetz vorsieht. KURIER-Recherchen ergaben jedoch, dass an diesen Orten meistens nicht einmal eine Gedenktafel an das Geschehene erinnert (siehe Grafik).
Die GedenkstätteMauthausen kümmere sich finanziell nur um die im Staatsbesitz stehenden Außenlager Gusen, Ebensee und Melk, bestätigt deren Pressesprecher Gregor Panis. Den lokalen Initiativen an den Stätten der vielen übrigen Außenlager werde inhaltliche Unterstützung angeboten.
Im für die Gedenkstätte zuständigen Innenministerium verweist man ebenfalls darauf, dass „selbstverständlich ein wesentlicher Budgetteil in den Betrieb der gesetzlich zu verwaltenden KZ-Gedenkstätten Mauthausen, Gusen, Ebensee und Melk“ fließe. Mit anderen Worten: Für die anderen gibt es kein Geld.
Auf die Frage, ob Innenminister Wolfgang Peschorn die Budgetmittel für das KZ-Gedenken der Republik für ausreichend hält, antwortet dieser, es sei „unerlässlich, den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken und sich der Gräueltaten des Nationalsozialismus zu erinnern, um solche Verbrechen in Zukunft zu verhindern.“ Damit die „KZ-Gedenkstätte Mauthausen“ ihren gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen könne, sei „eine adäquate Budgetmittelausstattung notwendig“.
Die entsprechenden Auskünfte zeigen jedoch, dass die der Gedenkstätte zur Verfügung stehenden Mittel konstant zwischen 4,6 und 4,8 Millionen Euro liegen – offensichtlich zu wenig, um auch die Außenlager zu versorgen.
Ist das symptomatisch für die österreichische Erinnerungskultur? „Das offizielle Gedenken wird auf Mauthausen verlagert“, sagt MKÖ-Geschäftsführerin Christa Bauer. Viele Außenlager würden dadurch „in der öffentlichen Wahrnehmung nicht stattfinden“. Ob der NS-Terror dort, wo er oftmals passiert ist, auch sichtbar gemacht wird, hänge nur von lokalen Initiativen ab, die teils Jahre und Jahrzehnte für die Bewahrung der Geschichte kämpfen müssten.
1947 übergaben die Sowjets die KZ. Während Mauthausen zum Gedächtnisort wurde, begann in Gusen „der Prozess des Verdrängens“, kritisierten Botschafter von neun europäischen Ländern im Jahr 2016. Sie forderten, dass die Republik nach jahrzehntelanger Vernachlässigung u.a. mit einem Doppelnamen, Mauthausen-Gusen, an die Bedeutung des KZ Gusen (35.000 Todesopfer) erinnert.
2016 wurde die staatliche „Gedenkstätte Mauthausen“ (ohne dem Zusatz „-Gusen“) geschaffen, die sich aber um die Zeugnisse „aller Außenlager“ zu kümmern hat. Weiters wurden verschüttete Teile des KZ Gusen entdeckt; die Familien boten dem BMI die Grundstücke zum Kauf an. Das BMI zögert bis heute.
2019 warnten deshalb nicht nur KZ-Überlebende vor dem Verfall („wir dürfen fortschreitende Verwüstung wichtiger Zeugnisse nicht zulassen“). Auch die polnische Regierung kritisierte Österreichs Untätigkeit und überlegte, selbst die Grundstücke zu kaufen („wir sind mit der Notwendigkeit von Sondermaßnahmen konfrontiert, die bisher als das absolut letzte Mittel galten“).
Zwar sei es gut für die Akzeptanz vor Ort, dass die Gedenkarbeit lokal getragen werde, sagt Bauer. Doch oft mangle es sowohl an der Unterstützung der Gemeinden als auch am nötigen Geld für Gedenktafeln, Feiern und Vermittlungsprojekte wie Apps und Führungen für Jugendliche. Dabei steige gerade die Nachfrage nach letzteren stark an, erzählt Bauer.
Und so feiert Österreich im kommenden Jahr 75 Jahre Befreiung vom Nationalsozialismus, während es an vielen Orten des NS-Terrors von der Republik verabsäumt wurde, für ein würdiges Gedenken zu sorgen, kritisiert Bauer: „Dass es überhaupt etwas gibt, ist Überlebenden, Opferorganisationen und engagierten Initiativen zu verdanken“.
Ganz so hart will aber der NS-Experte Bertrand Perz von der Uni Wien nicht mit Österreich ins Gericht gehen. Vieles hätte sich in den vergangenen Jahrzehnten getan. Aber ja, es könnte „natürlich viel mehr sein“, sagt auch er.
Die GedenkstätteMauthausen sei jedoch der falsche Adressat der Kritik, fehle es dort doch selbst an Personal und Geldmitteln. Es sei durchwegs angebracht, mehr zu tun, doch dafür müsse man das „Budget den Aufgaben anpassen“, alles andere sei „scheinheilig“.
Dennoch: In Gusen besteht auch Perz’ Meinung nach dringender Handlungsbedarf. Er habe aber den Eindruck, „dass entscheidende Leute die Dimension nicht ganz verstanden haben, um die es da geht“.
Gemeint ist die internationale Dimension, waren Polen doch die bei weitem größte Opfergruppe in Gusen. Nun laufe man Gefahr, die einmalige Chance, die Gedenkstätte weiterzuentwickeln, zu verpassen, meint Perz – ein Szenario, in dem jahrzehntelange Vorwürfe an die Republik, in der Erinnerungsarbeit versagt zu haben, vorprogrammiert wären. Denn in anderen Ländern würde genau beobachtet, wie Österreich mit seiner Geschichte umgeht.
Vor zwei Monaten war einer der KURIER-Reporter zufällig bei eine Führung in der GedenkstätteMauthausen. Der Guide bedauerte, dass viele Besucher nichts über die Konzentrationslager in ihrer Umgebung wissen oder diese gar nicht kennen würden. „Es ist wichtig, die Außenlager nicht zu vergessen“, forderte er, „die gezielte Vernichtung von Menschen geschah nicht an einem Ort. Mauthausen war überall.“
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