Österreich droht ein Pflegenotstand

Österreich droht ein Pflegenotstand
Schon jetzt herrscht in Österreich ein Engpass an Pflegepersonal. Eine Pensionswelle verschärft in den kommenden Jahren die Situation.

Christian Juranek hat eine Reihe von Zeitungsinseraten vor sich ausgebreitet. Es sind alles aktuelle Jobangebote für Pflegekräfte in verschiedenen Tiroler Gesundheitsbetrieben. Für den Leiter des Innsbrucker Senioren- und Pflegeheims Haus St. Josef am Inn ist das nur ein Indiz für den Ernst der Lage. "Ich bin seit 1998 im Pflegebereich tätig, aber einen solchen enormen Mangel an Pflegepersonal wie derzeit, habe ich noch nie erlebt", sagt Juranek.

Er will nun aus der Not eine Tugend machen. Schritt für Schritt soll das Haus St. Joseph von einem Pflege- in ein Wohnheim umgestellt werden. Es werden also vorrangig Senioren in niedrigen Pflegestufen aufgenommen, deren Betreuung weniger personalintensiv ist. Gleichzeitig will der Heimchef in einer Kooperation mit dem Ausbildungszentrum West (AZW) Schüler bei sich aufnehmen, die berufsbegleitend zu Pflegeassistenten geschult werden. So soll der sich ständig weiter verschärfenden Personalsituation aktiv etwas entgegengesetzt werden.

Hauptproblem Heime

Vom Mangel an Pflegekräften ist in Tirol laut Waltraud Buchberger, Fachbereichsdirektorin am AZW in Innsbruck, weniger der Spitals- als der Langezeit-Pflegebereich betroffen. "Dort fehlt es an allem", sagt sie. Das gehe von Pflegeassistenten über Pflegefacharbeiter bis hin zu den Diplompflegekräften, die es vor allem in den Krankenhausbetrieb zieht.

Zumindest fehlt es in Tirol laut Buchberger nicht an Ausbildungsplätzen. "Die Interessenten müssen aber auch geeignet sein", erklärt sie, warum nicht automatisch jeder Bewerber genommen wird.

Doch es fehlt nicht nur an Nachwuchs. Auch die Altersstruktur des bereits tätigen Personals wird zunehmend zum Problem – und das in ganz Österreich. "Wir haben schon jetzt einen Mangel an ausgebildetem Pflegepersonal. Aber das wird in den kommenden zwei bis drei Jahren noch viel schlimmer", warnt Ursula Frohner, Präsidentin des Österreichischer Gesundheits- und Krankenpflegeverbands (ÖGKV).

"Wir hören immer von der anstehenden Pensionswelle bei den Ärzten. Aber die trifft die Pflege genau so. Und dort wird es viel dramatischer", sagt Frohner. Den während die Ärzteschaft etwa 20 bis 24 Prozent aller im Gesundheitsbereich Beschäftigten ausmache, "sind es bei der Pflege 65 Prozent", rechnet die Wienerin vor. Aufgrund der Altersstruktur in der Bevölkerung werden die Auswirkungen in etwa gleich wie bei den Ärzten sein, vermutet Frohner. Ärztevertreter prognostizieren, dass bis 2020 jeder dritte Allgemeinmediziner älter als 65 sein wird.

Da erst 2018 ein Berufsregister für Gesundheitsberufe vorliegen soll, gibt es derzeit keine validen Zahlen, wie viele Menschen in Österreich in der Pflege arbeiten. Doch alleine in den Krankenhäusern sind laut Statistik Austria rund 70.000 Krankenschwestern, Pfleger und Pflegehelfer beschäftigt.

Lage in Wien

Von einer "Herausforderung, wenn auch keiner Personalnot" in Wien spricht die dortige Pflege- und Patientenanwältin Sigrid Pilz. "Es ist schwer, für Pflegeheime gut qualifiziertes Personal zu finden." Hinzu komme der steigende Bedarf aufgrund der Alterung der Bevölkerung. "Noch befinden wir uns in einer demographischen Delle, die Pflegeeinrichtungen in Wien können den Bedarf derzeit decken. Aber der große Anstieg wird noch kommen", sagt Pilz.

Beschwerden über Personalmangel werden an sie nur wenige herangetragen. "Das Gesetz macht Vorgaben hinsichtlich der personellen Mindestausstattung. Sie müssen auch eingehalten werden." Öfter vorkommen würden Beschwerden über häufige Personalwechsel.

Eine weitere Herausforderung sei die Abschaffung des Pflegeregresses (siehe unten). Kritiker befürchten, dass dadurch die Nachfrage an Heimplätzen steigen wird. "Es ist noch offen, ob es dazu kommen wird. Man hat verabsäumt, die Finanzierung und die Veränderungen im ambulanten Sektor mitzubedenken. Wir werden das Problem aber in der Heimkommission thematisieren", so Pilz.

Es war eine breite Mehrheit, die Ende Juni im Nationalrat für die Abschaffung des Pflegeregresses gestimmt hat. Am Aus für den Zugriff auf das Vermögen von Menschen, die in stationären Pflegeeinrichtungen betreut werden, oder auf das der Angehörigen, wird auch eine zukünftige Regierung nicht rütteln. Davon zeigte sich Tirols Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) am Dienstag überzeugt.

An den finanziellen Auswirkungen werden Bund und Länder jedoch noch länger knabbern. Die Finanzreferenten der Länder würden die Abschaffung zwar begrüßen, meint Platter: "Aber sie muss so gestaltet sein, dass die Länder keine Nachteile haben", forderte er am Dienstag. Die vom Bund zugesagten 100 Millionen Euro würden dafür nicht ausreichen. "Für 2018 werden mindestens 200 Millionen Euro notwendig sein", erklärte Platter.

Doch diese Summe deckt laut dem Landeshauptmann nur den Entfall der bisher lukrierten Regress-Einnahmen ab. Völlig unklar ist jedoch, wie viele Personen künftig von der Haus- in die Heimpflege wechseln werden. "Wir werden uns das jetzt anschauen, wie groß der Ansturm auf die Heime wird", sagte Platter.

Der will zwar alles unternehmen, dass die Pflege zu Hause gefördert wird. Gleichzeitig rechnet der Tiroler aber auch damit, dass auf Heim-Ebene nachgebessert werden muss. "Langfristig werden wir mit dem Angebot nicht auskommen", sagt der Landeschef.

Weitere Verschärfung

Durch die Abschaffung des Pflegeregresses dürfte sich der Personalmangel an Fachkräften in den Seniorenheimen (siehe oben) weiter verschärfen. Sollte der Ansturm auf die Heime tatsächlich eintreten, wird jedoch nicht nur beim Personal aufgestockt werden müssen, sondern auch bei der Bettenkapazität.

Die Länder wollen in der ersten Jahreshälfte 2018 die Entwicklung beobachten. Bis Ende Juni wollen die Finanzreferenten dann eine Einigung mit dem Bund auf dem Tisch haben.

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