Tyrannei im Kinderheim: Evy, ein Opfer von fast 4.000
"Ich habe mich wie eine Drachentöterin gefühlt, als ich in das Gebäude zurückgegangen bin", beschreibt Evy Mages. Zurück in eine Vergangenheit, die sie von sich wegschob, oder es zumindest versuchte.
In den Erinnerungen der heute 58-jährigen Evy tauchten immer wieder jene der achtjährigen Evy auf. Da sah sie Bilder eines blassgelben Hauses in Innsbruck – Evy war eines von fast 4.000 Kindern, die in der berüchtigten Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl "psychische, physische, sexualisierte und strukturelle Gewalt" erleiden mussten, wie ein Untersuchungsbericht von Historikern und Medizinern nachwies.
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Zehn Jahre alt ist diese Expertise, sie wurde 2013 veröffentlicht. Evy, geboren 1965 in Tirol als Kind einer ledigen Mutter, und als Zwanzigjährige in die USA ausgewandert, wagte aber erst 2021 den ersten Schritt zurück in ihre Kindheit.
Sie googelte die Kinderbeobachtungsstation, eine psychiatrische Einrichtung, entdeckte die Berichte der Kommission und einen zweiten, 400 Seiten dicken, aus 2017. Und sie beschloss, ihre Kindheit nicht mehr zu verdrängen: Das US-amerikanische Magazin The New Yorker griff Evys Geschichte vor Kurzem auf und machte die Tragödie der Kinder in der Innsbrucker Psychiatrie international bekannt.
Was in dem Kinderheim geschah
Die beiden Studien, jene aus 2013 und 2017, arbeiteten wissenschaftlich auf, was Evy und Tausende andere Kinder – großteils aus Tirol, Vorarlberg und Salzburg – ertragen mussten. Neben Demütigungen und Misshandlung benützte Nowak-Vogl, die die Station seit deren Gründung mehr als 30 Jahre leitete, die Kinder als Versuchspersonen: Sie ließ ihnen Epiphysan spritzen, ein Mittel aus der Tiermedizin gegen "Brunftverhalten von Rindern". In den 1930-er Jahren wurde es benützt, um Häftlinge in Gefängnissen ruhig zu stellen – es sollte ihren Sexualtrieb unterbinden.
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Nowak-Vogl wollte damit auch die Kinder in der Station kontrollieren, speziell die Mädchen und deren "sexuelle Über-Erregtheit“. Der Einsatz von Epiphysan sei „völlig sinnlos“ gewesen, hielten die Gutachter später fest: "Wesentlich schwerer allerdings wiegt der Vorwurf, dass sie eine Studie mit ihr anvertrauten, schutzlosen Kindern durchgeführt hat.“
Zur Person
Die Psychiaterin Maria Nowak-Vogl (1922 – 1998) leitete die sogenannte Kinderbeobachtungsstation von deren Gründung 1954 bis zu ihrer Pensionierung 1987
Der Bericht
2013 legte eine Expertenkommission aus Historikern und Medizinern ihre Analyse über die Station unter Nowak-Vogl vor: Sie zeigte „psychische, physische, sexualisierte und strukturelle Gewalt“
Die Opfer
Aus dem Zeitraum der Leitung Nowak-Vogls sind 3.650 Krankengeschichten von Kindern dokumentiert
Sozialisiert in der NS-Zeit
Die Ärztin blieb bis 1987 im Amt; 1980 ermittelte zwar die Staatsanwaltschaft gegen sie, doch diese Erhebungen wurden eingestellt. Erst mit ihrer Pensionierung wurde die Station geschlossen.Die Psychiaterin, sozialisiert in der NS-Zeit, herrschte aber nicht nur in der Abteilung absolut. Nowak-Vogl war für Westösterreich jene Ärztin, die auch extern stets zur Begutachtung von „auffälligen“ Kindern herangezogen wurde und entschied, ob Kinder in ein Heim mussten.
Sie lehrte auch an der Uni Innsbruck, ihre Kinderbeobachtungsstation beschrieben Historiker 2017 als Mischung aus Heim, Gefängnis und Versuchsklinik.
Die Kinder wurden misshandelt
Evy kam 1973 dorthin, nachdem ihre Pflegemutter mit dem angeblich schwierigen Kind nicht zurechtkam. Sie erinnert sich, dass sie fest eingewickelt im Bett liegen musste, ohne sich zu rühren. Gab ein Kind einen Laut von sich, wurde es aus dem Bett gescheucht und musste am Gang stehen.
Evy musste fünf Monate bleiben, ehe sie entlassen wurde von einer Station, die aber Teil eines größeren Systems war: Der Landtag beschloss 2020, auf Verjährung bei Missbrauchsfällen in fünf ehemaligen Kindererziehungsheimen des Landes Tirol zu verzichten. Rund 650 Opfer wurden bisher entschädigt.
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