"Meine Pflegemutter hatte bereits ein Kind getötet"
Es ist der 25. November 2019, 14 Uhr. Jede Sekunde öffnet sich die Türe zum Verhandlungssaal 205, hier am Landesgericht für Zivilrechtssachen in Graz. In ein paar Stunden wird Walfried Janka überglücklich oder am Boden zerstört sein. Er hat die letzten drei Nächte kaum geschlafen, läuft auf und ab.
Dann ist es soweit: "Walfried Janka gegen das Amt der steiermärkischen Landesregierung, bitte treten Sie ein", klingt es plötzlich aus dem Saal.
Wird ein Streitwert von 100.000 Euro überschritten, so hat man im Zivilrecht die Möglichkeit, die Verhandlung und Entscheidung durch einen Dreiersenat von Richtern zu verlangen. Janka und seine Anwältin Julia Kolda haben das getan. Zwei Richterinnen und ein Richter sitzen heute ganz vorne im Saal.
Neben ihnen sitzt Dr. Peter Költringer, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Dieser Mann wird etwas später noch eine sehr wichtige Rolle spielen.
Walfried Janka hat nun, im Alter von 53 Jahren, eine Amtshaftungsklage erhoben. Der KURIER berichtete bereits mehrmals über das Leben des Mannes.
Es ist das kaum vorstellbare Martyrium eines Menschen, der in der Obhut des Staates misshandelt, missbraucht und gedemütigt wurde. Seine Zähne sind schief und kaputt, der Kiefer deformiert von den vielen Brüchen, doch ein Zahnarztbesuch kommt nicht infrage. Die Angst vor der Erinnerung ist zu groß.
Die Erinnerung an das "Monster", wie er seine Pflegemutter während der Verhandlung nennt, als sie ihm mit einer rostigen Beißzange all seine Milchzähne gerissen hat. Sein kleiner Körper war am Sessel angebunden, ein anderes Kind musste seinen Kopf ruhig halten. Das Blut hat gespritzt und weil es auch "das Monster" bespritzt hat, gab es eine Tracht Prügel noch obendrauf. Walfried war damals ein Kind von neun Jahren.
Dies ist nur eine von etlichen grausamen Anekdoten aus seinem Leben. Die meiste Zeit war er in einem kleinen dunklen Zimmer eingesperrt. Die Gewalt der Pflegemutter hat sichtbare Spuren an seinem Körper hinterlassen. Doch die Narben seiner Seele sind weit schlimmer. Im Alter von 19 Jahren begeht er in betrunkenem Zustand ein Tötungsdelikt an einem Taxifahrer. Daraufhin muss er 16 Jahre ins Gefängnis, die ersten beiden Jahre sitzt er im Maßnahmenvollzug.
Nachdem er sich in Freiheit wieder ein Leben aufgebaut hat, Vater von zwei Kindern ist, nimmt er im Jahr 2016 ein zweites Mal Einsicht in seinen Akt von damals. Darin steht tatsächlich, dass seine damalige Pflegemutter bereits Kindsmord begangen hatte, bevor Walfried als Baby zu ihr kam. Sie wurde damals dafür zu drei Jahren "schwerem Kerker" verurteilt. Das Amt wusste also davon.
"Wann haben Sie sich das erste Mal mit der Aufarbeitung Ihrer Kindheit auseinandergesetzt?", fragt die Richterin und sie ergänzt: "Das ist wichtig, weil heute wollen wir die Verjährungsfrage klären."
Nach österreichischem Recht wäre der Fall prinzipiell nämlich schon verjährt, jedoch berufen Janka und Anwältin Kolda sich auf §1494 ABGB - Hemmung der Verjährung.
Ist eine volljährige Person aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfähigkeit an der Durchsetzung ihrer Rechte gehindert, so beginnt die Ersitzungs- oder Verjährungszeit erst zu laufen, wenn sie die Entscheidungsfähigkeit wiedererlangt oder ein gesetzlicher Vertreter die Rechte wahrnehmen kann.
Janka sagt, er habe sich erst ab 2016 intensiver mit seiner Kindheit auseinandergesetzt – bis dahin habe er verdrängt und es gab in seinem bewegten Leben auch lange keinen Platz und Raum für derartige psychische Aufarbeitungen. Ein aktuelles Gutachten von Dr. Pius Prosenz sagt zudem, dass Janka bis zum Jahr 2016 auch schlichtweg diesbezüglich tatsächlich nicht handlungsfähig gewesen sei. Psychisch nicht geschäftsfähig.
Dies prüft nun das Gericht und hat daher mit Dr. Peter Költringer, der heute neben dem Dreiersenat sitzt, einen komplett neuen Gutachter an Bord geholt.
Eine Grausamkeit nach der anderen
"Wurst, wie ich es drehe, wir sind in der Verjährung. Was Herrn Janka passiert ist, ist furchtbar, keine Frage. Aber das geht sich einfach nicht aus“, wirft der Anwalt der beklagten Partei ein. Siegessicher zwinkert er ins Auditorium, wo sein Konzipient sitzt.
"Nicht nach unserer Auffassung, bei der es nach der Geschäftsfähigkeit geht", entgegnet ihm eine Richterin.
In den nächsten vier Stunden wird Janka von allen Seiten in die Mangel genommen. Er erzählt Geschichten seines Lebens, chronologisch zuerst, dann durcheinander. Die Fragen prasseln auf ihn ein, das müssen sie. Nach 2,5 Stunden überkommt ihn ein Weinkrampf. Dann geht es weiter. Die heutigen Richterinnen und der Richter hören ihm gespannt zu während er unter dem kühlen Licht der Neonlampen eine Grausamkeit nach der anderen berichtet.
Er erzählt, dass er mit 19 Jahren nicht lesen oder schreiben konnte. Als er in Untersuchungshaft war, mussten andere Insassen seine Briefe und Ansuchen für ihn vorschreiben, er habe sie dann abgeschrieben. Er erzählt, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr leben wollte und nur noch an Selbstmord dachte. Die Straftat, die er begangen hatte, der Mord, hätte ihn so stark belastet, dass ihm mit einem Mal alle Haare ausgefallen seien.
Zu dieser Zeit hatte er das erste Mal Einsicht in seinen Akt gehabt, eine knappe Stunde wurde im gewährt. Das Wort Kindsmord blieb ihm in Erinnerung. Glauben sollte ihm das jedoch niemand. Von den anderen Insassen wurde er im Spazier-Hof ausgelacht als er davon erzählte. "Zeit meines Lebens wurde mir doch eingetrichtert, dass ich dumm und unnütz bin, daher habe ich an dem gezweifelt, was ich gelesen habe. Ich hatte kein Selbstvertrauen. Ich war mir lange nicht sicher, ob gewisse Dinge tatsächlich passiert sind“, sagt Janka zu den Richterinnen und dem Richter.
Bildung nachgeholt
Im Gefängnis lernte er lesen und schreiben, verschlang ein Geschichtsbuch nach dem anderen. Nach einiger Zeit durfte er eine Lerngruppe organisieren, für die ein Hauptschullehrer in die Anstalt kam. "Die Erinnerungen und Gefühle an meine Kindheit habe ich jedoch größtenteils verdrängt, heruntergeschluckt."
Die Fragen gehen weiter. Warum er nie den Gefängnispsychologen aufgesucht hat, um aktiv darüber zu reden? Ob er denn seine Kindheit nach der Haftstrafe nicht mit seiner Bewährungshelferin aufgearbeitet habe? Warum er nach dem Gefängnis so lange Zeit nicht in Therapie war?
Janka hat auf alles Antworten. Sie erschließen sich nicht immer sofort, manchmal braucht es ein paar Nachfragen durch die Richterinnen und den Richter. Auch Janka selbst muss immer wieder nachfragen, weil er nicht alles versteht, nicht nur sinngemäß, sondern auch akustisch, weil er auf einem Ohr nichts hört, wie er dem Gericht erklärt.
Das Gericht muss nun also herausfinden, ob es stimmen kann, dass er sich tatsächlich erst im Jahr 2016 das erste Mal mit seiner Kindheit bewusst und intensiv auseinandergesetzt hat. Da, als er den Akt ein zweites Mal angefordert hat. "Sogar meine Frau und Kinder wissen erst seit 2016 von meinem Schicksal. Als ich beschlossen habe, an die Öffentlichkeit zu gehen, musste ich es ihnen sagen und das natürlich mit ihnen besprechen. Wir haben alle geweint bei dem Gespräch.“
Janka sagt, er habe diese lange Zeit offenbar gebraucht, um zu verstehen, was passiert ist. Er habe wohl selbst Vater von zwei Kindern werden müssen, um das Ausmaß seines Schicksals zu verstehen. Die Summe von allem, was bis zu diesem Zeitpunkt geschehen ist und die gute Zurede einiger Freunde hätten ihn dann schließlich dazu gebracht, den Akt erneut einzusehen und seine Stimme zu erheben.
Ein erster Erfolg
Um 18 Uhr endet die erste Tagsatzung der Verhandlung, die die Parteien und den Dreiersenat viel Kraft gekostet hat. Die Klage wurde heute nicht wegen Verjährung abgewiesen. Das ist durchaus ein erster kleiner Erfolg für Walfried Janka. Eine Entscheidung über die Verjährung wird erst fallen. Das Gericht will zuerst das schriftliche Gutachten des Sachverständigen abwarten. Der anwesende Psychiater, Dr. Peter Költringer, wurde damit beauftragt. Es wird eine zweite Tagsatzung im kommenden Jahr geben.
Walfried Janka ist heute nicht am Boden zerstört. Er hat nun wieder Mut gefasst. Es könnte zumindest doch noch eine finanzielle "Gerechtigkeit“ für ihn geben. "Meine Pflegemutter hatte doch bereits ein Kind getötet.“
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