Leichen freigelegt: Gletschereis gibt Ermittlern Rätsel auf
Das Opfer ist verblutet. Aber wer hat diesen Mann, dessen Überreste das Eis auf 3.200 Metern Höhe freigegeben hat, hinterrücks ermordet? Diese Frage wird vermutlich nie geklärt werden, in diesem wohl ältesten Kriminalfall der Menschheitsgeschichte.
Am 19. September 1991 entdeckte ein deutsches Touristenehepaar aus Nürnberg im Eis des Similaungletschers am Hauslabjoch eine mumifizierte Leiche. Das Gezerre um den Körper des Unbekannten ging erst los, als klar war: Er hat seine letzten Atemzüge vor mehr als 5.300 Jahren in der Kupfersteinzeit getan.
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Knapp nicht auf Tiroler Boden, sondern über der Grenze auf italienischem Staatsgebiet ausgeapert, hat „Ötzi“ seine letzte Ruhestätte deshalb in Bozen im eigens für ihn geschaffenen Archäologiemuseum Südtirol gefunden. Wobei Ruhe relativ ist.
Tödlicher Glücksfall
An der in einer Kühlzelle gelagerten und zur Schau gestellten Mumie wird bis heute geforscht. Wer den „Mann aus dem Eis“ mit einem Pfeilschuss ermordet hat, bleibt aber unklar.
Für die Wissenschaft war der Fund jedenfalls ein Glücksfall. Und weitere Sensationen sind nicht ausgeschlossen. Denn das „ewige Eis“ in den Alpen schmilzt aufgrund des Klimawandels rasant. Und gibt so frei, was es einst verschluckt hat – so erst vergangene Woche Leichenteile am Schlatenkees in Osttirol.
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Auch die geben vorerst ein Rätsel auf. Ob es jemals gelöst wird, ist ebenfalls offen. Die Polizei geht derzeit davon aus, dass die unweit der auf 2.796 Metern gelegenen Neuen Prager Hütte in der Venediger Gruppe gefundenen menschlichen Überreste bereits „einige Jahrzehnte“ hier gelegen sind.
45 Vermisstenfälle
Derzeit werden DNA-Proben des Toten ausgewertet. Das kann noch einige Wochen dauern. Ob dann die Identität geklärt werden kann, hängt auch davon ab, wann genau die Person ums Leben kam. „Bis 1964 zurück haben wir durchgängige und verlässliche Aufzeichnungen zu Vermissten in den Tiroler Bergen“, sagt Gert Hofmann, stellvertretender Leiter des LKA. „Derzeit gibt es 45 Fälle von Personen, die im alpinen Raum verschwunden sind.“
Weltsensation
1991 gibt der Similaungletscher in den Ötztaler Alpen eine mumifizierte Leiche frei. Wie sich herausstellte, lag der von Medien „Ötzi“ getaufte Tote über 5.300 Jahre im Eis
Rätselhafter Fall
2003 werden am Stubaier Gletscher die Überreste des seit 1989 vermissten Duncan MacPherson gefunden. Ein tödlicher Snowboardunfall, sagen die Behörden. Die Eltern des Mannes glauben, dass ihr Sohn von einer Pistenraupe überrollt wurde
43 Jahre vermisst
2017 gibt der Alpeiner Ferner die Leiche eines Bergsteigers frei, der seit 1974 verschollen war
Damit DNA zugeordnet werden kann, müssen Proben eines Toten in der Datenbank hinterlegt sein oder zum Abgleich von potenziellen Verwandten genommen werden, wofür es aber Hinweise auf die Identität bräuchte.
43 Jahre verschollen
Bei einer Gletscherleiche, die 2017 auf dem Alpeiner Ferner in den Stubaier Alpen eines Tages aus dem Eis ragte, waren es gefundene Ausweise, die zur Klärung führten. 43 Jahre, nachdem im August 1974 ein damals 36-jähriger Deutscher zu einer Tour über den Gletscher aufbrach und nie wieder gesehen wurde, konnte dieser Vermisstenfall geschlossen werden. „Ich habe ihm gesagt, dass es nicht klug ist, alleine über den Gletscher zu gehen“, erinnerte sich Horst Fankhauser, Alpinisten-Legende und Senior-Wirt der Franz-Senn-Hütte (2.147 Meter) nach dem Fund der Leiche im KURIER-Gespräch an den Mann. 1974 war er noch selbst an der Suchaktion beteiligt.
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Vierzehn Jahre lang galt auch Duncan MacPherson als vermisst, ehe an einem heißen Sommertag im Juli 2003 seine Leiche am Stubaier Gletscher aus dem Eis taute und von Pistenarbeitern entdeckt wurde. Ein Unfall, sagen die Ermittler. Doch die Eltern des bei seinem Verschwinden 23 Jahre alten Eishockey-Profis aus Kanada hatten Zweifel.
Knochenbrüche
Etwa weil das Auto ihres Sohnes 1989 für 48 Tage lang auf dem Parkplatz des Skigebiets stand und nicht gemeldet wurde, obwohl nach dem jungen Mann und seinem Opel bereits gesucht wurde. Als die Überreste des Kanadiers in einer Gletscherspalte gefunden wurden, waren die Gliedmaßen vom Körper abgetrennt. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Innsbruck erklärte das später so: „Es kommt bei Gletscherleichen, die jahrelang dem fließenden Eis ausgesetzt waren, immer wieder vor, dass diese zum Beispiel Knochenbrüche aufweisen.“
Die Eltern von Duncan M. hatten eine andere These: Nämlich, dass ihr Sohn nach einem Snowboard-Unfall bei schlechter Sicht in eine Pistenraupe geriet, der Fahrer vermutlich Panik bekam und Duncan in der Gletscherspalte versteckte. Ein Obduktion der Leiche gab es nie, da die Behörden von einem Unfalltod ausgingen.
2013 widmete der US-Autor John Leake dem mysteriösen Fall nach eigenen Recherchen ein Buch: „Eiskalter Tod.“ Aus seiner Sicht waren die Ermittlungen lückenhaft, Aussagen widersprüchlich.
Der perfekte Mord?
Der Tod in den Bergen bietet immer wieder Raum für Spekulationen. Denn dort gibt es wie auf hoher See reichlich Möglichkeiten, ohne Zeugen ein Gewaltverbrechen zu begehen: Ein kleiner Schubs, ein tiefer Fall. Ein perfekter Mord als Unfalltod getarnt?
„Es ist nicht auszuschließen, dass es im alpinen Bereich zu unentdeckten Tathandlungen kommt. Die Möglichkeit besteht, das liegt auf der Hand“, sagt LKA-Vizechef Hofmann. Aber dass es in den Bergen eine besonders hohe Dunkelziffer an unentdeckten Verbrechen geben könnte, sei Spekulation.
Er versichert auch: „Wenn bei einem tödlichen Alpinereignis nur zwei Menschen unterwegs waren, stellen wir schon entsprechende Fragen und tätigen Umfelderhebungen.“ Etwa zu möglichen Lebensversicherungen.
Die Gletscher tauen unaufhaltsam. Man wird sehen, welche ungeklärten Vermisstenfälle das schmelzende Eis noch entblößen wird.
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