Missbrauch in der Kirche: "Vertuschungsversuche wird es immer geben"
Das Münchner Missbrauchsgutachten hat die katholische Kirche erschüttert. Sexuelle Gewalt an Minderjährigen wurde vertuscht und Täter wurden geschützt. Sogar der emeritierte Papst Benedikt XVI. wird belastet. Wie groß das Ausmaß der kirchlichen Krise ist, zeigen die Hunderten Anträge auf Kirchenaustritte, die seit Veröffentlichung des Gutachtens in Bayern eingegangen sind.
Auch in Österreich haben zahlreiche Skandale die dunklen Geheimnisse der Kirche an die Oberfläche katapultiert. Vor zwölf Jahren wurde deshalb die „Unabhängige Opferschutzanwaltschaft“ unter der Leitung von Waltraud Klasnic ins Leben gerufen. Udo Jesionek, Mitglied der Klasnic-Kommission und Präsident der Verbrechensopferhilfe „Weisser Ring“, erklärt im Interview, wie es um die Aufklärung kirchlichen Missbrauchs in Österreich steht.
KURIER: Waltraud Klasnic sagte nach Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachtens, man sei in Österreich bezüglich Aufarbeitung kirchlichen Missbrauchs um Jahrzehnte voraus. Sind wir tatsächlich ein Vorbild?
Jesionek: Die katholische Kirche in Österreich nimmt in der Tat eine Vorreiterrolle ein. Österreich war im Jahr 2010 weltweit das erste Land, in dem mit der Aufarbeitung von Missbrauch an Kindern in Institutionen begonnen wurde.
Aufgrund der Missbrauchsskandale und darauf folgende Kirchenaustritte stand die Kirche allerdings mit dem Rücken zur Wand.
Sie stand jedenfalls unter Zugzwang. Irgendwann hätte man mit der Aufarbeitung beginnen müssen, es war nur eine Frage der Zeit.
Ein häufiger Vorwurf an die Klasnic-Kommission ist, sie sei Teil der Täterorganisation. Kann diese unabhängig arbeiten?
Meine Voraussetzung für die Zusage war damals, dass das, was wir beschließen, auch umgesetzt wird und wir völlig unabhängig arbeiten können. Das ist auch so. Es gab nie den geringsten Versuch, Einfluss zu nehmen.
Rein symbolisch ist die Verknüpfung mit der Kirche für die Opfer nicht ideal, oder?
Es wäre geschickter gewesen, den Weissen Ring damit zu beauftragen, wie es damals die Stadt Wien beim Missbrauch in Kinderheimen getan hat. Damit wäre es völlig losgelöst von der Kirche gewesen. Aber das liegt auch an den komplizierten Strukturen und Zuständigkeiten der katholischen Kirche.
Udo Jesionek: Der Jurist und ehemalige Präsident des Jugendgerichtshofs Wien ist seit 1991 Präsident der Verbrechensopferhilfe „Weisser Ring“. Er ist seit der Gründung Mitglied der Klasnic-Kommission und war auch mit der Aufklärung von Missbrauch in Wiener Kinderheimen betraut.
Klasnic-Kommission: 2010 beauftragte Kardinal Schönborn die ehemalige steirische Landeshauptfrau Waltraud Klasnic mit der Einrichtung der Opferschutzanwaltschaft. Diese hat bisher in 2.800 Fälle entschieden und 33,3 Mio. Euro zuerkannt. Pro Opfer werden 5.000 bis 25.000 Euro ausgezahlt.
Die Entschädigungszahlungen an Opfer liegen deutlich hinter jenen Irlands oder der USA. Warum?
Die Entschädigungssätze sollten meiner Meinung nach höher sein. Die Beträge waren das Einzige, was von der Kirche vorgegeben wurde. Aber die Therapiestunden, die wir zuerkennen, sind mit bis zu 120 Stunden sehr hoch. Klar ist aber auch, dass kein Betrag die Taten jemals wiedergutmachen kann, auch nicht Millionen. Und das Wichtigste ist für die Opfer die Anerkennung. Ihnen zu sagen, ja, euch ist Unrecht geschehen.
Werden die Täter hierzulande ausreichend zur Rechenschaft gezogen?
Sehr oft ist das gar nicht mehr möglich. Das hat einerseits mit der Verjährung zu tun. Andererseits ist es gerade bei diesen Taten oft nicht mehr möglich, Beweise zu erbringen, die auch vor Gericht standhalten und zu einer Verurteilung führen könnten.
Ist zumindest garantiert, dass sie danach keinen Kontakt mehr zu Jugendlichen und Kindern haben?
Ich hoffe es. Das ist ja das Tragische am aktuellen Fall mit Benedikt XVI. Sie waren der Meinung, wenn die Täter bereuen und beten, werden sie es nicht mehr tun. Und anstatt sie ins Archiv zu versetzen, haben sie sie wieder mit Kindern arbeiten lassen. Zu glauben, man kann Täter so heilen, ist nicht nur naiv, sondern auch ein großes Verbrechen.
Apropos Verjährung: Warum schaffen es Opfer häufig nicht, sich früher an zuständige Stellen zu wenden?
Kinder verstehen meist gar nicht, was ihnen geschieht. Zudem ist es mit Scham verbunden. In der Kirche und anderen Institutionen haben aber auch die Rahmenbedingungen dazu beigetragen.
1954 - Der steirische Priester und Missionar Joseph Seidnitzer wurde das erste Mal verurteilt. Er hatte Burschen wiederholt sexuell missbraucht. Es folgten zwei weitere Verurteilungen, der Straftatbestand war stets derselbe. Der Fall Seidnitzer markiert den Anfang einer Reihe österreichischer Skandale um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche.
1995 - Josef Hartmann, ein ehemaliger Schüler Hans Hermann Groërs im Knabenseminar Hollabrunn, berichtete im profil, als Bub Opfer von sexuellen Übergriffen durch Groër geworden zu sein. Die Kirchenaustritte nahmen nach Bekanntwerden drastisch zu, in besagtem Jahr waren es rund 44.000. Zahlreiche Kirchenvertreter – von Christoph Schönborn bis Kurt Krenn – rückten zu dessen Verteidigung aus. Doch es meldeten sich immer mehr Betroffene, bis Hans Hermann Groër als Vorsitzender der Bischofskonferenz zurücktrat. Dennoch übertrug man ihm 1996 erneut ein kirchliches Amt, diesmal als Priors eines Klosters. Doch ein paar Jahre später warfen ihm mehrere Mönche aus Groërs Stammkloster, dem Stift Göttweig, sexuellen Missbrauch vor. Es kostete ihm sein letztes Amt. Kurz darauf gab es auch Eingeständnisse von Bischöfen wie Christoph Schönborn und Egon Kapellari: Die Vorwürfe würden im Wesentlichen zutreffen. Er selbst schwieg darüber bis zu seinem Tod. Auch angeklagt wurde Groër nie.
2004 - Auf dem Computer eines Priesterschülers im Seminar des Bistums St. Pölten wurden kinderpornografische Dateien gefunden. Der verantwortliche Bischof Kurt Krenn bezeichnete die Vorgänge als „Bubendummheiten“, einen Rücktritt lehnte er zunächst ab – musste es kurze Zeit später aber doch tun. Der Priesterschüler wurde zu einer halbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Erneut führten die Geschehnisse zu einer Flut an Kirchenaustritten – mehr als 52.000.
2010 - Doch der bisherige Rekord von knapp 86.000 Austritten innerhalb eines Jahres wurde 2010 erreicht, als die Vorwürfe hunderter Betroffener an die Öffentlichkeit gelangten. Es ging um Missbrauch und Gewalt in katholischen Kinderheimen, Klöstern, Pfarren und Stiftsgymnasien – wie etwa in Kremsmünster.
Reaktion der Kirche - Nach der Affäre Groër wurde 1996 die erste Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche gegründet. Mittlerweile gibt es sie in allen neun Diözesen sowie dem Militärordinariat. Im Jahr 2010 wurde die „Unabhängige Opferschutzanwaltschaft“ ins Leben gerufen.
Wie kann man sexuellen Missbrauch in der Kirche verhindern?
Zentrales Thema ist die Prävention. Sie wirkt durch Aufklärung und Schulung. Zusätzlich braucht es permanente Aufsicht und Kontrolle. Und man muss kirchlichen Amtsträgern die Möglichkeit geben, mit ihrer Sexualität fertigzuwerden. Wenn man das Zölibat anordnet, muss man Anlaufstellen bieten, wo es nicht nur seelsorgerische, sondern auch therapeutische Angebote gibt. Ich glaube schon, dass das Zölibat eine Ursache für sexuellen Missbrauch ist. Im Vergleich zu meiner Arbeit in der Missbrauchsaufklärung in staatlichen Einrichtungen habe ich in der Klasnic-Kommission mit viel mehr Fällen von Pädophilie zu tun.
In Deutschland hat die MHG-Studie (Mannheim, Heidelberg, Gießen, Anm.) viel zur Aufklärung beigetragen. Warum gibt es in Österreich keine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung? Den Grund kenne ich nicht. Die Kommission selbst hat keine Möglichkeit dazu. Sie hat sich auf die Frage der Therapien und Entschädigungen zu beschränken. Aber meiner Meinung nach stünde es der katholischen Kirche gut an, so etwas umzusetzen.
Die Kirche betont, dass Vertuschung von Missbrauch der Vergangenheit angehöre. Stimmt das?
Vertuschungsversuche wird es immer geben. Jede Organisation will nach außen hin sauber dastehen. Aber ich glaube, es ist heutzutage schwieriger, als Täter im Verborgenen zu bleiben. Noch vor zehn oder 15 Jahren haben sie gewusst, dass ihnen nichts passieren wird, weil man den Opfern nicht geglaubt hat. Heute schenkt man ihnen diesen Glauben und es kommt zu Verfahren.
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