919 Jahre schuldlos im Gefängnis

919 Jahre schuldlos im Gefängnis
Ein Richter sammelte die spektakulärsten Fehlurteile und erforschte deren banale Ursachen.

Der deutsche Strafrichter Patrick Burow hat den Glauben daran verloren, die Justiz – „seine“ Justiz – würde Gerechtigkeit herstellen. Das hängt damit zusammen, dass er für sein „Lexikon der JustizirrtümerFehlurteile gesammelt hat. Burow ist auch der Frage nachgegangen, wie solche Fehlurteile zustande kommen. Die Ursachen sind banal: Zeugen irren sich oder lügen, Geständnisse werden erzwungen, unqualifizierte Sachverständige erstellen falsche Gutachten, Polizisten unterschlagen entlastendes Material.

Patrick Burow skizziert in seinem Buch 90 Fehlurteile aus Deutschland, Österreich, den USA und England. Die Justizopfer in diesem Bruchteil der weltweiten Fälle sind zusammengerechnet 919 Jahre schuldlos in Haft gesessen. Zwölf von ihnen wurden sogar hingerichtet, bevor sich herausstellte, dass sie nicht die Täter waren.

Sogar den Richter und vormaligen Staatsanwalt Burow hat bei seinen Recherchen erschreckt, wie beharrlich die Justiz an ihrem Fehlurteil festhält, wenn es einmal gefällt ist.

Augenzeuge

Wie im Fall Peter Heidegger: Bereits zwei Wochen nachdem der Präsenzdiener am 10. Juni 1994 als Mörder der Salzburger Taxilenkerin Claudia Deubler zu 20 Jahren Haft verurteilt worden war, nannte ein Augenzeuge vor der Polizei einen anderen Täter. Aber die Gerichte schmetterten alle Anträge auf Wiederaufnahme ab. Erst sieben Jahre später wurde der Fall neu aufgerollt, Haidegger entlassen und der richtige Täter verurteilt. Haidegger bekam für 2865 Tage hinter Gittern 950.000 Euro, die höchste je in Österreich ausgezahlte Haftentschädigung, die großteils für die Verteidigungskosten aufging.

Der Linzer Ex-Rennfahrer Tibor Foco zog es vor, 1995 lieber aus der Haft zu flüchten und unterzutauchen, als darauf zu warten, dass sein Urteil revidiert wird. Er war 1987 als Mörder der Prostituierten Elfriede Hochgatterer zu Lebenslang verurteilt worden, obwohl Spuren auf einen anderen Täter wiesen. Geschworene klagten nach dem Prozess den vorsitzenden Richter an, sie zum Fehlurteil gedrängt zu haben.

Der deutsche Biologielehrer Horst Arnold hat die Verurteilung seiner Kollegin, die ihn mit falschen Bezichtigungen hinter Gitter gebracht hatte, nicht mehr erlebt. Die Jung-Lehrerin hatte behauptet, der Kollege – auf dessen Job sie scharf war – habe sie in der Schule vergewaltigt. Arnold bekam fünf Jahre, saß die Strafe bis zum letzten Tag ab, verlor seinen Job. Erst durch einen Zufall kam ans Licht, dass die Frau laufend Lügengeschichten auftischt: Unter anderem von einem durch Kopfschuss getöteten Lebensgefährten, den es gar nicht gibt. Das Urteil gegen Arnold wurde aufgehoben. An dem Tag, an dem die Lehrerin wegen der Verleumdung angeklagt wurde, starb Arnold an Herzversagen. Die Frau wurde kürzlich nicht rechtskräftig zu fünfeinhalb Jahren verurteilt.

Auf die Frage, ob man sich da als Richter überhaupt noch über ein Urteil traut, sagt Patrick Burow zum KURIER: „Man wird vorsichtiger.“ Wird er wegen seiner Kritik im Buch an Kollegen und Polizisten angefeindet? „Die meisten Kollegen schweigen das Problem einfach tot. Justizirrtümer sind wie die Kunstfehler bei Ärzten: Man spricht darüber nicht.“

Richter Burow plädiert für „im Zweifel für den Angeklagten“. Aber was ist, wenn ein Mörder wegen dieses Grundsatzes frei geht und neuerlich mordet?

„Die Hypothese stimmt nicht“, sagt Burow: „Die Freispruchquote liegt bei drei Prozent. Aber das sind Fragen, die einen als Richter durchaus in den Schlaf verfolgen. Allein die Gefahr möglicher neuer Taten darf nicht dazu führen, jemanden trotz mangelnder Beweise zu verurteilen.“

Buch

„Das Lexikon der Justizirrtümer“, 272 Seiten, Eichborn, 14,99 €, von Patrick Burow, ist gegliedert und reicht von (falscher) Anklage über (fehlendes) Motiv und (unfähige) Verteidiger bis (unrichtige) Zeugenaussagen.

Fälle international

Wettermoderator Jörg Kachelmann ist seit der falschen Vergewaltigungsanklage trotz Freispruchs ruiniert. Der Football-Spieler O. J. Simpson wurde trotz DNA-Spuren von der Anklage des Doppelmordes an Ex-Frau und deren Geliebten freigesprochen. Die Studentin Amanda Knox wurde ohne Zeugen, Motiv und Beweise (nur wegen ihrer eiskalten Augen?) als Mörderin ihrer Mitbewohnerin zu 26 Jahren Haft verurteilt. Der Freispruch in der Berufung kam nach 1427 Tagen in Haft.

Umgekehrter Justizirrtum: Prostituiertenmörder und Häfenliterat Jack Unterweger wurde als resozialisiert entlassen, mordete neuerlich, beging Suizid. Foco und Heidegger: klassische Fehlurteile.

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