Jugendkriminalität: Das kurze Gefühl, ein "König" zu sein

Mit 15 ging Michael einbrechen, mit 22 sucht er eine Aufgabe
Zahl der Verurteilungen rückläufig. Ein ehemaliger Dealer erzählt, wie er den Ausstieg schaffte.

Michael zeigt sich von seiner charmanten Seite – er hält die Tür auf. Es ist die Tür zum Verein Neustart im zweiten Bezirk in Wien. Er hat einen Termin mit seinem Sozialarbeiter. Seit fünf Jahren kommt Michael regelmäßig hierher. Muss er. Das gehört zu den Bewährungsauflagen des 22-Jährigen.

Michaels Vergangenheit gleicht einem Scherbenhaufen. Seit er 13 war, lebte er in betreuten Wohngemeinschaften und Krisenzentren. "Der Kontakt zur Familie war nicht so gut", erklärt er. Mit seinem Stiefvater ging er zum ersten Mal einbrechen. "Ich wollte seine Anerkennung", sagt er. Und er wollte ein Moped. Also brach er bei einem Fußballclub ein. Als Michael das erste Mal vor dem Richter stand, war er 15.

Mehr Anzeigen

Allein ist Michael damit nicht. 1687 Jugendliche und 3002 junge Erwachsene waren es heuer (gerechnet bis inkl. September), die verurteilt wurden. Zumeist wegen Körperverletzungen, Diebstählen, Sachbeschädigungen – aber auch wegen Raubes. Die Anzahl der Verurteilungen geht laut Justizministerium seit Jahren zurück (siehe Grafik). Im Gegensatz dazu steigt die Zahl der Anzeigen. Auch deshalb, sagt Nikolaus Tsekas, Leiter des Vereins Neustart Wien 1, weil heute schneller angezeigt werde als früher. "Früher hat man manche Dinge privat geregelt – etwa Sachbeschädigungen. Aber das Sicherheitsbedürfnis ist gestiegen, die Gesellschaft überträgt die Verantwortung vermehrt dem Staat."

Michael kam mit einer bedingten Strafe davon. Auch beim zweiten Mal, als er unter einer Brücke Zugänge zu Werkstätten fand – und sie aufbrach.

Drei Jahre später bekam er "so richtig eine auf den Deckel". Da dealte er mit Amphetaminen und Cannabis. "In der Zeit habe ich gelebt wie ein König", erinnert er sich. Er bezahlte den Führerschein, kaufte sich die Wohnungseinrichtung, ging fort und half der Mutter finanziell aus. Dann krachten eines Nachts schwer bewaffnete WEGA-Beamte mit dem Rammbock in seine Wohnung. Sein erster Gedanke: "Warum haben die nicht geklopft?" Sein zweiter: "Jetzt bin ich im Häfn. Wie erklär ich das der Mama?"

Und dann war er froh, dass es vorbei war. "Zum Schluss war ich selbst nicht mehr gut beisammen. Ich hab’ ja auch selbst was genommen und war vier, fünf Tage durchgehend munter." Mit 19 Jahren stand er zum dritten Mal vor Gericht. Der Richter zeigt wieder Milde. Denn Michael bereute, entschuldigte sich aufrichtig. "Das ist meine letzte Chance."

Die regelmäßigen Treffen mit dem Sozialarbeiter seien anfangs "sehr lästig" gewesen. "Ich hatte ja die Weisheit mit dem Löffel gefressen", ist er selbstkritisch. Heute schätze er die Gespräche. "Er ist mein Ersatzvormund, mein Psychologe, mein bester Freund und mein schlechtes Gewissen."

Um die Welt will Michael reisen. Weg von hier. Was ihn hält, sind die regelmäßigen Termine. Und die Suche nach einer Aufgabe. "Ich würde gern Mechaniker lernen." Ausbildungsplatz hat er noch keinen gefunden.

Jugendkriminalität: Das kurze Gefühl, ein "König" zu sein

Jugendlichen Straftätern bleibt öfter die Haft erspart, zeigt eine Statistik des Justizministeriums. Ab dem kommenden Jahr tritt zudem die Reform des Jugendgerichtsgesetzes in Kraft. Dann sollen Richter bei jugendlichen Tätern zusätzlich verstärkt zu Mitteln wie betreutes Wohnen oder Sozialnetzkonferenzen als Alternative zur Haft zurückgreifen. Zudem gelten niedrigere Strafuntergrenzen für junge Erwachsene bis 21 Jahren. Kritik gibt es schon im Vorfeld. "Die Justiz ist viel zu sanft gegen junge Kriminelle. Ein fatales Signal", ortete Wolfgang Valenta vom Jugendamt der Stadt Salzburg. Richterin Christa Edwards, seit Kurzem Obfrau der Fachgruppe Jugendrichter, machen solche Aussagen "sprachlos".

KURIER: Sind Jugendrichter tatsächlich zu sanft?

Christa Edwards: So eine Aussage entspricht nicht den Tatsachen. Das ist möglicherweise seine persönliche Meinung. Aber das bestreite ich.

Aber die Zahl der Verurteilungen geht zurück.

Bei schweren Taten, bei denen kriminelle Energie dahinter steckt, stimmt das nicht. Sie werden mit den entsprechenden Konsequenzen verfolgt. Aber das richtige Augenmaß ist notwendig. Es gibt auch Kriminalität, die gerade einmal schon so Kriminalität ist. Was wäre eine adäquate Reaktion, wenn ein Jugendlicher ein Verkehrsschild kaputt macht? Haft? Das ist weder präventiv, noch für die Gesellschaft erforderlich. Ich bin froh, dass wir da andere Möglichkeiten haben. Jugendliche sollen ja auch noch eine Chance haben, und es macht keinen Sinn, sie als Kriminelle abzustempeln.

Gleichzeitig steigt aber die Zahl der Anzeigen.

Die Anzeigenstatistik sagt nichts über einen Anstieg der Kriminalität aus. Das zeigt nur die Besorgnis der Bevölkerung.

Der Tatausgleich, eine Alternative zur Gerichtsverhandlung, bei der Täter und Opfer eine Lösung suchen, wird weniger genutzt (2010: 1799 Mal, 2015 inkl. September 819 Mal, Anm.). Warum?

Das stimmt leider. Auch deshalb, weil er fürs Gericht relativ kompliziert durchzuführen ist. Da entscheidet man sich vielleicht eher für andere Diversionsarten.

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