Jäger, Gejagte, Ausgesetzte auf der Todesautobahn
Farid, Sami und Amir (Namen geändert, Anm.) brauchen eine Pause. Die drei jungen Männer sitzen im Schatten unter einer Brücke, trinken Cola und Fanta und schauen den vorbeibrausenden Autos auf der Ostautobahn zu. Hier, zwischen Nickelsdorf und Mönchhof, hat sie ein Schlepper ausgesetzt. "Jetzt müssen wir zu Fuß weiter", sagen sie in gebrochenem Englisch. Dem KURIER erzählen sie später, an einem sicheren Ort, ihre Geschichte.
Die drei kommen aus Afghanistan. Als sie beschlossen, ihre Heimat zu verlassen, steckten sie ihr Hab und Gut in Plastiksackerln und schafften es irgendwie nach Ungarn. "Dort bieten sich überall Leute an, die einen mitnehmen wollen. Man sucht sich dann jemanden aus, der einigermaßen sympathisch ausschaut", erklären sie. In Budapest fiel ihre Wahl auf einen Mann, der sie mit einem Kleintransporter nach Deutschland bringen sollte. Zusammen mit 42 anderen Passagieren.
Wie man sich so eine Fahrt vorstellen muss? "Die ersten steigen ein, die nächsten setzen sich dann drauf. Nach ein paar Minuten in dieser Enge schlafen einem die Beine ein. Luft kommt nur durch einen kleinen Schlitz, man kann kaum atmen. So sind wir ungefähr vier Stunden gefahren", schildert Farid. 500 Euro haben sie dem Schlepper bezahlt. "Er hat uns betrogen. Kurz nach der österreichischen Grenze hat er uns aussteigen lassen und gesagt: ’Das ist Österreich. Schaut, wie ihr alleine weiterkommt.’"
"Viel riskiert für Frieden und Ruhe"
Flüchtlinge, die mitten auf der Autobahn ausgesetzt werden, gehören für die Polizei mittlerweile zum Tagesgeschäft. Bis zu 300 Aufgriffe gibt es täglich alleine im Bezirk Neusiedl am See. Die Flüchtlinge werden in ein Auffanglager an der ehemaligen Grenzstation zu Ungarn gebracht. Das Rote Kreuz versorgt sie dort mit Suppe, Nudeln und Toastbrot, auf Pritschen können sie sich ausruhen, bis sie in ein Quartier gebracht werden.
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Adnan und seine Freunde ruhen sich schon seit drei Tagen aus. Sein "Driver" – so nennen sie die Schlepper auf Englisch – sei verhaftet worden, seither wartet er hier. Der 61-jährige Syrer ist aber nicht ungeduldig – im Gegenteil: "Ich habe viel riskiert für ein Leben in Frieden, Freiheit und Ruhe. Ich freue mich darauf, in Österreich aufgenommen zu werden und die Menschen kennenzulernen."
Deutlich finsterer ist die Stimmung bei der 20-jährigen Hiba: "Ich wollte mit meinen Brüdern nach Deutschland. Meine Eltern sind schon dort. Ich verstehe nicht, warum mich die Polizei festgenommen hat." Die Studentin aus Syrien sei mit einem Flüchtingsboot, mit dem Zug und zu Fuß hergekommen. Für einen "Driver" habe sie kein Geld gehabt. Eine Gruppe junger Männer hat diese Option von vornherein abgelehnt: "Man hört immer wieder von schlimmen Unfällen mit Lkw und Booten. Das ist uns viel zu gefährlich."
Farid, Sami und Amir sehen das pragmatischer. Angesprochen auf das Schicksal jener 71 Flüchtlinge, die auf demselben Autobahn wie sie unterwegs waren und ums Leben gekommen sind, sagen sie: "Auf dem Weg von Afghanistan haben wir einige solcher Fälle gesehen. Wir legen unser Leben in die Hände der Schlepper. Es ist unsere einzige Chance."
19 Uhr auf der Raststation Göttlesbrunn an der Ostautobahn (A4) in Niederösterreich: Beamte in Zivil rollen langsam in ihrem Skoda an der Tankstelle vorbei in Richtung Autobahnparkplatz. "Da hinten, das ist ein typisches Schlepperfahrzeug. Eine klapprige Kiste, alle Seitenscheiben zugeklebt, nur noch ein Kennzeichen. Das wurde irgendwann hier nach einer Absetzung von Flüchtlingen zurückgelassen, wahrscheinlich nach einer Panne", sagt ein Ermittler. Die zivile Streife bleibt etwas abseits stehen. Im Trubel des Urlauber-Reiseverkehrs halten die Ermittler Ausschau nach allem, was nach einem illegalen Schleppertransport oder nach Flüchtlingen aussehen könnte.
Keine leichte Aufgabe. Derzeit rollen täglich mehr als 3000 Lastwagen im Burgenland und in Niederösterreich über die Ostautobahn. Lastwagen wie jener, in dem am Donnerstag 71 zusammengekauerte Leichen entdeckt wurden. "Theoretisch könnten in jedem Transporter, der hier unterwegs ist, Flüchtlinge versteckt sein", erklärt ein führender Ermittler des nö. Landeskriminalamtes.
Alkoholiker und Süchtige
Seit Wochen kommen die gegen den Menschenhandel eingesetzten Beamten mit ihrer Arbeit nicht mehr nach. Alleine in Niederösterreich werden täglich zwischen fünf und zehn Schlepper aufgegriffen. "Es werden von den Organisationen für die Fahrten bewusst die Untersten im System ausgesucht. Alkoholiker, Drogenabhängige, Leute, die nicht einmal einen Führerschein besitzen und auch sonst nichts haben. Sie fahren stundenlang mit 50, 60 Menschenleben an Bord, ohne eine Pause zu machen. Dass es da zu Katastrophen kommt, war nur eine Frage der Zeit", sagt ein Kriminalist.
Die Schlepper selbst bekommen pro Fahrt gerade einmal 200 bis 500 Euro. Das große Geld machen die Hintermänner. Zwischen 10.000 und 15.000 Euro kostet eine Schleppung vom Irak nach Europa. "Die Organisatoren sitzen bereits im Irak. Die Familie bezahlt dort auf Etappen für denjenigen, der auf die Reise geschickt wird. Er meldet sich von der Route und gibt bekannt, wo er gerade ist."
Meistens versuchen die Schlepper, die Flüchtlinge im Schutz der Dunkelheit in der Nähe der Autobahn abzusetzen. Beim Lokalaugenschein besuchen wir einen besonders beliebten Absetzpunkt bei der Autobahnabfahrt Bruck/Leitha-Ost. Auf einem Feldweg liegen die Überbleibsel der Geschehnisse der vergangenen Nacht: Schuhe, Rücksäcke, Gewand und Zahnbürsten, vereinzelt auch verdorbene Lebensmittel. "Die Gegenstände werden von einem Vorausfahrzeug deponiert oder nach der Absetzung zurückgelassen. Auf diesem Abschnitt werden täglich Dutzende Flüchtlinge aufgegriffen", sagt ein Polizist.
Geht ein Schlepper ins Netz, kommt viel Bürokratie auf die Beamten des Landeskriminalamtes zu. "Wenn er in kürzester Zeit zu reden beginnt, dauert die erste Amtshandlung etwa zwölf Stunden, sonst wesentlich länger". Immer öfter ist aus den Männern auch etwas herauszubekommen. Vereinzelt nennen sie Namen, Spitznamen, Telefonnummern oder Adressen von Auftraggebern, die meistens in Ungarn, Serbien oder Rumänien sitzen. Über Rechtshilfeansuchen werden dann die jeweiligen Behörden in den Ländern um Unterstützung ersucht. "Im besten Fall gibt es einen internationalen Haftbefehl", so ein Ermittler.
Zurück auf der A4 erreicht die Zivilstreife ein Funkspruch. Ein verdächtiger weißer Kastenwagen ist vom Burgenland in Fahrtrichtung Schwechat unterwegs. Die Meldung entpuppt sich als falscher Alarm. Die Männer im Fonds des Fahrzeuges sind keine Flüchtlinge, sondern rumänische Arbeiter am Weg nach Deutschland.
KURIER: Was ging Ihnen durch den Kopf als Sie von der menschlichen Tragödie auf der A4 erfuhren?
Hans Peter Doskozil: Wenn so etwas passiert, ist es für uns herinnen, in der Führung, schon sehr belastend. Umso belastender für die Kollegen draußen vor Ort, die die Leichen bergen, sie identifizieren müssen. Das ist eine schwierige Situation. Die Kolleginnen und Kollegen, die mit diesem Fall befasst sind, erhalten psychologische Betreuung.
Glauben Sie, dass durch diese Tragödie letztendlich die gesamte Bevölkerung zur Überzeugung gelangt, dass die Flüchtlinge nicht leichtfertig ihr Land verlassen?
Das ist schwierig zu beantworten. Wie wir über eine Anhaltestelle in Deutschkreutz diskutiert haben, habe ich bemerkt, dass hier sehr viele Vorbehalte bestehen.
Wie kann man das ändern?
Ich glaube, dass wir künftig noch mehr Aufklärungsarbeit, Überzeugungsarbeit leisten müssen, damit sich jeder wirklich ein Bild machen kann, dass in jenen Gemeinden, wo Flüchtlinge bereits längerfristig – in vertretbarem Ausmaß – untergebracht sind, die Vorbehalte gegenüber Flüchtlingen geringer sind als dort wo es überhaupt keine gibt.
Sowohl Landeshauptmann Hans Niessl als auch FPÖ-Chef Heinz Christian Strache fordern strengere Grenzkontrollen. Macht das überhaupt Sinn?
Aus jetziger Sicht ist das personell und auch technisch sehr schwierig. Der Punkt ist der, dass sich die Schlepper an die Situation anpassen. Aufgrund der Krisensituation in Syrien werden wir durch Grenzkontrollen am Ende des Tages nicht weniger Flüchtlinge haben. Wir werden möglicherweise Schlepper erwischen.
Das heißt, dass die Schlepper ihre Strategien laufend ändern?
Es ist grundsätzlich so, dass sich eine kriminelle Organisation immer anpasst, und immer versucht einen Schritt schneller zu sein als die Exekutive.
Sehen Sie eine Möglichkeit derartige Verbrechen in Zukunft zu verhindern?
Wir tun unser Möglichstes. Gestern noch wurden 60 Zuteilungen aus Kärnten und aus der Steiermark angefordert. Nicht nur, um die Administration des Flüchtlingswesens sicherzustellen, sondern auch, um repressiv verstärkt auftreten zu können. Doch es wird niemand ausschließen können, dass derartige Dinge wieder passieren.
Wie hoch ist die Belastung der Polizei an der A4?
Der Arbeitsmodus hat sich in den letzten Wochen und Monaten komplett geändert. Speziell im Bezirk Neusiedl am See ist die Arbeitsbelastung und das Arbeitsumfeld immens belastend. Wir haben uns überlegt, dass wir durchaus in einzelnen Bereichen, wie eben in Nickelsdorf, Unterstützungsleistungen im psychologischen Bereich vor Ort vornehmen. Auch bei den Mitarbeitern des Rotes Kreuzes liegt die Hemmschwelle sehr niedrig.
Was passiert jetzt mit den Toten?
Nach der Obduktion in Wien werden wir entscheiden, ob sie dort bleiben oder ins Burgenland gebracht werden. Falls sich keine Angehörigen melden, werden die Toten höchstwahrscheinlich in Parndorf begraben.
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