Udo Jesionek war Gründungsmitglied der Opferschutzorganisation Weißer Ring. Mit 86 Jahren lässt er nun andere in die erste Reihe. Auf die Parkbank zum Vögel füttern wird er sich trotzdem nicht setzen.
Udo Jesionek sitzt an seinem Schreibtisch. "Meine Bezahlung erfolgt in Kaffee", lacht der 86-Jährige und nimmt einen Schluck aus der Tasse.
Jesionek ist Gründungsmitglied des Verbrechensopferhilfe-Vereins Weißer Ring. 33 Jahre lang war er ehrenamtlicher Präsident, mit Jahresanfang hat er diese Funktion zurückgelegt.
Nun ist er Ehrenpräsident. Mit dem KURIER spricht der gelernte Werkzeugmacher und langjährige Präsident des Jugendgerichtshofes über Opferschutz, die Bedeutung von Strafen und seine eigene Gefühlslage nach zwei Einbrüchen daheim.
KURIER: Herr Jesionek, die Schlagzeilen der vergangenen Tage waren selten schön. Sechs ermordete Frauen, ein junges Mädchen, das von 17 Burschen missbraucht worden sein soll ...
Udo Jesionek: Die Maßnahmen, die wir haben, greifen nicht. Erst ab dem Zeitpunkt, an dem etwas passiert. Wenn ein völlig unauffälliger Mann plötzlich ausrastet, kann man das nicht kontrollieren. Aber in vielen Fällen ist ja schon vorher etwas passiert. Man muss die Frauen motivieren, sich zu trauen. Und oft ist da natürlich auch eine wirtschaftliche Abhängigkeit – das ist ein Riesenproblem. Die einzige Chance, die ich sehe: Eingreifen, sobald ein Verdacht da ist, dass jemand ausrasten könnte.
Gerade bei häuslicher Gewalt gab es Nachschärfungen.
Das Gewaltschutzgesetz und die -zentren, das funktioniert. Aber wenn eine Frau auf der Straße niedergeschlagen wird – dann bekommen wir ihre Daten nicht. Immer wieder kommen Frauen heulend zu uns mit hohen Kostennoten von Anwälten. Dabei hätten sie eine kostenlose Prozessbegleitung bekommen. Oder sie fallen um Ansprüche wie Schmerzengeld um. Das Justizministerium hat uns da eine Lösung versprochen.
Sie waren selbst Richter, nicht immer gibt es Beweise ...
Die Gewaltambulanzen, die jetzt eröffnet werden, sind ganz wichtig. Ich weiß nicht, wie viele Schuldige ich in meinen 40 Jahren als Richter freigesprochen habe. Wenn ich Spuren habe, wenn ich den blauen Fleck habe, Spermien – hab’ ich ein schönes Beweismittel.
1.824 Opfer Seit 45 Jahren betreut der Weiße Ring Verbrechensopfer. Im Jahr 2022 wurden 1.824 Personen begleitet. Jede zweite war Opfer eines Delikts gegen Leib und Leben. Die Delikte reichen von Körperverletzung, Tötungsdelikten bis zu Diebstahl oder Betrug. Für 67 Klienten war der Arbeitsplatz zum Tatort geworden.
Terror und Missbrauch Nach dem Terroranschlag wickelte der Weiße Ring die Auszahlungen aus dem Terroropfer-Fonds ab. Auch bei großen Missbrauchsskandalen wurde der Weiße Ring damit beauftragt, entsprechende Entschädigungen auszuzahlen.
Nein, ich hoffe nur, dass ich keine Unschuldigen schuldig gesprochen habe.
Wie reagieren Opfer auf Freisprüche?
Das ist ein Problem, daran kann man verzweifeln. Da braucht es psychosoziale Prozessbegleitung.
Und wie wichtig sind Strafen für den Täter?
Ach, ein Mann, der ausrastet, denkt nicht an eine mögliche Bestrafung. Als Richter habe ich oft Jugendliche im Gefängnis getroffen und dadurch wahnsinnig viel erfahren. Ich hatte einmal einen Fall, ein Kind war wegen Tierquälerei angeklagt. Und dann habe ich gesehen: Das Kind quält das Tier. Die Mutter quält das Kind. Der Vater quält die Mutter. Das war eine Gewaltkette.
Braucht es eine intensivere Täterarbeit?
Sicher. Aber die zehn Stunden, die jetzt im Gewaltschutzgesetz stehen, sind zu wenig.
Was hat Sie als Richter mehr beschäftigt? Die Geschichten der Opfer oder der Täter?
Beides. Die Geschichten der Menschen. Wobei als junger Richter waren die Opfer in meiner Wahrnehmung nicht präsent, maximal als Zeugen. Von den Nöten und Ängsten habe ich erst später erfahren. Mir war klar, dass jemand, der niedergeschlagen wird, traumatisiert ist. Aber nicht, dass das auch auf eine Seniorin, der die Brieftasche gestohlen worden ist, zutreffen kann. Das ist mir erst später bewusst geworden. Bei mir ist zwei Mal eingebrochen worden. Ich habe selbst gespürt, dass ich unsicher werde. Mein erster Blick beim Heimkommen war zur Terrassentür, wo die Täter reingekommen sind.
Merken Sie die Veränderungen der Kriminalität?
Ja, wir betreuen aktuell viele Senioren. Stichwort Polizistentrick. Da kann man noch so informieren – die Täter machen das sehr raffiniert. Und die Opfer sagen: Der war so sympathisch. Natürlich, ein Betrüger muss sympathisch sein. Und bei vielen älteren Menschen ist es schon so, die sind allein. Die sind traumatisiert, die igeln sich dann ein. Wir sind auch dafür da, um zuzuhören. Und sie auch als Opfer anzuerkennen. Also: Rührt’s euch. Ihr könnt’s Hilfe kriegen.
Das Wort „Opfer“ wird bei Jugendlichen mittlerweile als Schimpfwort verwendet.
Ja leider, aber wir bleiben dabei. Wenn du einen anderen Begriff hast, wird der früher oder später auch wieder negativ ausgelegt. Gegen die Veränderung der Sprache bist du machtlos.
Der Weiße Ring hat unter anderem den Terroropfer-Fonds abgewickelt und mit den Opfern in großen Missbrauchsfällen gearbeitet.
Der Terroranschlag ... das war eine neue Qualität. Mich persönlich hat am meisten aber der Missbrauch in der katholischen Kirche erschüttert. Es gibt kaum etwas, was mir nicht untergekommen ist.
Glaubt man da noch an das Gute im Menschen?
Ja, es gibt auch viele gute Menschen. Minister Broda (früherer SPÖ-Justizminister, Anm.) hat einmal gesagt, jeder Mensch ist eine Mischung aus Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
Wie werden Sie Ihre neu gewonnene Zeit nutzen?
Ich werde mich sicher nicht in den Park setzen und Vögel füttern. Ich werde hier noch ein bisschen herumwerkeln, ich brauch was zu tun.
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