Impfung bei Jungen: Experte sieht klaren Nutzen, aber keine Eile

Impfstoff (Symbolbild).
Für Wiener Pharmakologen fällt Nutzen-Risiko-Abwägung "eindeutig positiv aus". Empfehlung für niedrige Dosen für Kinder.

Trotz des geringeren Risikos bei Kindern und Jugendlichen schwer an Covid-19 zu erkranken, fällt für den Wiener Pharmakologen, Markus Zeitlinger, die Nutzen-Risiko-Abwägung einer Impfung in der Gruppe ab zwölf Jahren "eindeutig positiv aus". Man wisse nun schon sehr viel über die mRNA-Impfstoffe. Obwohl mögliche schwere Nebenwirkungen höchst selten auftreten, sei es aber "total legitim" für Eltern, auf weitere Daten aus den USA zu warten. Niemand sollte sich drängen lassen.

Die Nutzen-Risiko-Abwägung in Bezug auf Kinder und Jugendliche ist eine Gleichung mit zahlreichen Variablen. Auf der Seite des individuellen Nutzens steht das Risiko durch Erkrankung selbst, der Effekt der Intervention - hier die Impfung mit einem der von der EU-Arzneimittelagentur EMA zugelassenen Impfstoff - und letztlich das Risiko, das von der Intervention an in der Regel gesunden jungen Menschen ausgeht, erklärte der Vorstand der Universitätsklinik für klinische Pharmakologie der MedUni Wien im Gespräch mit der APA. Dazu kommt der indirekte Nutzen für die Allgemeinheit, wenn etwa durch eine höhere Durchimpfungsrate neue Wellen eher verhindert werden, neue Virenvarianten weniger Chancen haben oder Schulschließungen ausbleiben können.

Zeitlinger geht davon aus, dass grundsätzlich nahezu jede ungeimpfte Person ein hohes Risiko hat, in den kommenden Jahren mit irgendeiner SARS-CoV-2-Variante in Berührung zu kommen. Wird ein Kind oder Jugendlicher tatsächlich krank, liegt die Wahrscheinlichkeit in Österreich bei 1:500 bis 1:1.000, dass sich ein schwerer Verlauf mit einem Hyperinflammationssyndrom einstellt, der eine Spitals- oder Intensivbehandlung notwendig macht, so der Experte: "Das ist natürlich viel geringer als bei älteren Menschen." Würde aber insgesamt eine Million Kinder hierzulande infiziert, betreffe das immerhin zumindest 1.000 von ihnen.

Das Wochen nach einer Covid-19-Erkrankung in seltenen Fällen bei Kindern auftretende Mis-C- oder PIMS-Syndrom ist durch eine überschießende Immunreaktion, die einen lebensgefährlichen Verlauf nehmen kann und intensivmedizinische Betreuung notwendig macht, gekennzeichnet. In den USA wurden bisher über 4.000 solcher Fälle registriert, bei 36 tödlichen Verläufen. Auch für den Leiter der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Uniklinikum in Dresden, Reinhard Berner, ist dies ein "relevantes Problem", das Experten weltweit überrascht habe. Mittlerweile erkenne man zum Glück das Krankheitsbild und könne reagieren und behandeln. Ungefähr 350 gemeldete Fälle gab es bisher in Deutschland, in der Altersgruppe ab zwölf Jahren waren es über 100, sagte der Mediziner kürzlich in einer Pressekonferenz des deutschen Science Media Center (SMC).

Insgesamt müsse man festhalten: Kinder kommen deutlich seltener ins Spital, ist dies aber notwendig, sind die Überlebenschancen kaum anders als bei Erwachsenen, so Zeitlinger. Daten aus den USA würden überdies zeigen, dass unter rund 1.600 jungen College-Sportlern bis zu 2,5 Prozent im Zuge einer Covid-Erkrankung eine Myokarditis (Herzmuskelentzündung) entwickeln. Wie bei Erwachsenen auch, steigt die Häufigkeit schwerer Verläufe und Nebeneffekte bei Jungen mit den Risikofaktoren wie Diabetes oder Übergewicht. Zeitlingers Fazit: "Covid ist eine gefährliche Erkrankung - auch für Kinder. Jeder, der etwas anderes sagt, hat einfach keine schwerkranken Kinder gesehen."

Dass der für die Altersgruppe ab zwölf Jahren in Europa zugelassene mRNA-Impfstoff von Pfizer/BioNtech eine gute Immunreaktion anstößt, zeige die Zulassungsstudie mit 2.300 Teilnehmern deutlich. Alle 16 Erkrankungsfälle in der Studie waren in der Gruppe, die statt dem Impfstoff eine Placebo-Dosis erhalten hat. "Ganz eindeutig: es wirkt", so Zeitlinger.

Neben all dem dürfe man nicht vergessen, wie sehr Kinder und Jugendliche von den Einschränkungen in der Pandemie betroffen waren. Würden ihnen zukünftig aufgrund fehlenden Impfschutzes erneut soziale Kontakte verwehrt, sei das doppelt bitter für diese Altersgruppe.

Beim Risiko der Impfung selbst könne man sich die Daten aus der Pfizer/BioNtech-Studie anschauen: Auch die Jugendlichen haben hier die klassischen Symptome nach der Impfung gezeigt. Je ein Drittel hatte Kopf- und Muskelschmerzen und war müde. Rund zehn Prozent entwickelten Fieber. "Das ist, was wir erwartet haben, aber schon am oberen Rand im Vergleich zu Erwachsenen. Das muss man fairerweise dazu sagen", betonte Zeitlinger. Das passe auch in das Bild, dass junge Menschen auf mRNA-Impststoffe tendenziell stärker reagieren als höhere Alterskohorten.

Hier setzt ein Kritikpunkt Zeitlingers an: Man müsse für die jüngeren Menschen über Dosisanpassungen nachdenken. Die Standard-Dosis von 30 Mikrogramm sei für diese Altersgruppen vermutlich überdimensioniert. Den Punkt der Reduktion der Dosis könne man den Firmen "als Versäumnis ankreiden". Zeitlinger: "Ich glaube, dass bei zwölf bis 15-jährigen schon niedrigere Dosen gereicht hätten." Die Zulassung gilt jedoch bisher für die höhere Konzentration. Aktuell laufen jedoch Studien mit zehn oder 20 Mikrogramm in noch jüngeren Alterskohorten.

Zu kleine Stichprobe

Klar sei, dass mit der relativ kleinen Stichprobe von etwas über 1.100 Geimpften in der Pfizer/BioNtech-Studie etwaige seltene oder sehr seltene Impfreaktionen nicht detektiert werden können. In den USA wurden aber bereits rund 3,3 Millionen Jugendliche (12 bis 15 Jahre) erstgeimpft. Zeitlinger: "Hier beginnt sich eine ganz massive Datenbank aufzubauen." Da die USA Europa hier um rund zwei Monate voraus sind, habe Österreich nun angesichts niedriger Inzidenzen und der kommenden Ferien "die Zeit und den Luxus abzuwarten", sagte der Experte für Evidenzbasierte Medizin von der Donau-Universität Krems, Gerald Gartlehner, zum SMC. Die Dringlichkeit, "um Zwölfjährige im Juni oder Juli zu impfen, ist einfach nicht gegeben." Aus epidemiologischer Sicht mache es aber natürlich Sinn, auch die Jüngeren zu impfen, der Nettonutzen sei aber sehr sorgfältig abzuwägen.

Dass bei derart vielen Erstimpfungen in den USA auch eine Reihe schwerer Nebenwirkungen aufgetreten ist, sei leider auch zu erwarten gewesen, erklärte Zeitlinger. Dazu gehören Herzmuskelentzündungen - ein sehr seltenes "Signal", das mRNA-Impfstoffe leider zeigen. Daten von jungen Erwachsenen weisen auf im Schnitt einen Fall unter rund 100.000 Geimpften hin, betroffen von Myokarditis sind zu drei Viertel jüngere Männer, meist nach der zweiten Impfdosis. "Das ist durchschnittlich zwei Tage nach der Impfung aufgetreten, also sehr früh", betonte Klinische Pharmakologe: "Ich möchte daher, dass sich die Kinder einige Tage schonen, nachdem sie geimpft werden." Tritt dies auf, erholen sich 80 Prozent der Betroffenen gut davon.

Denke man dies für die USA durch, komme man in etwa auf 700 derartige Fälle, wenn tatsächlich alle Kinder und Jugendlichen dort immunisiert würden. Im Vergleich zu den jetzt dort schon über 4.000 dokumentierten Mis-C-Fällen nach Covid-19-Erkrankung sei dies voraussichtlich das geringere Übel: "Das bekomme ich natürlich nicht mehr, wenn ich geimpft bin."

Insgesamt zeige sich nach den mittlerweile vielen Millionen Impfungen weltweit, dass seltene Impfnebenwirkungen früh auftreten. Da die ersten Studienteilnehmer ihre mRNA-Dosen nun schon vor einem Jahr erhalten haben, sei klar: "Man fällt nicht nach einem Jahr plötzlich mit einer allergischen Reaktion um. Langzeitfolgen würde ich persönlich eigentlich ausschließen."

"Es wird kein Druck gemacht"

Zeitlinger sieht es positiv, dass junge Menschen im österreichischen Impfplan erst Richtung Schluss vorgesehen sind: "Es können sich Kinder impfen lassen, es wird aber kein Druck gemacht." In ein bis zwei Monaten könnten Familien dann ihre Entscheidung auf Basis deutlich umfassenderer Daten treffen. Ein Zuwarten sei "total legitim", ebenso wie eine Entscheidung in die andere Richtung. "Der letzte, der will, dass Kindern etwas passiert, bin ich. Ich verstehe die Ängste, glaube aber, aus all diesen Überlegungen, dass die Risiko-Nutzen-Abwägung auch individuell für das Kind eindeutig positiv ist", sagte Zeitlinger.

Wären auch die Jungen schon grundimmunisiert, reicht auch ihnen eine simple Auffrischung, wenn etwa eine gefährlichere Virusvariante auftauchen sollte. Dazu kommt die Frage, wie gut die Immunantwort auf ein Vakzin bei alten Menschen tatsächlich ist. Sind die Jungen nachweislich geschützt, bringt das auch den älteren Menschen etwas. Nicht zuletzt die lockdownbedingten Nahezu-Ausfälle von ganzen Schuljahren könnten sich Jung und Alt und somit die ganze Gesellschaft sicher nicht mehr leisten, betonte Zeitlinger. Vor allem die Sommerferien könnten somit gut genutzt werden, um die entsprechende Gruppe auf den Schulstart im Herbst vorzubereiten.

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