Weil der Krieg auch uns treffen kann

Wien 3, Erdbergstraße 186, keine schlechte Adresse: Brigitte Dvorak bringt warme Kleidung und Schuhe zum Notquartier der Flüchtlinge
Österreich erinnert sich wieder einmal an eine große Tradition: Für die Flüchtlinge aus Syrien wird auch Geld und Zeit gespendet.
Von Uwe Mauch

Berührend, was sich Samstagvormittag vor der ehemaligen Zollwacheschule in der Erdbergstraße 186 abspielt: Abdul ist warm ums Herz, aber kalt an den Füßen. Der geprüfte Deutschlehrer ist in eine dicke Winterjacke gehüllt. Doch an den Füßen trägt er noch immer die weißen Flip-Flops, mit denen er vor dem Krieg geflüchtet ist.

Genau in dem Moment, da er fragt, ob es für ihn vielleicht auch Schuhe gibt, biegt Brigitte Dvorak, eine Wirtin aus Wien 3, ums Eck. An ihrer rechten Schulter hängt ein prall gefüllter blauer Sack mit schönem Gewand, in der Linken trägt sie einen roten Sack, aus dem Schuhe rausragen.

Warum sie gekommen ist, sei eigentlich ganz einfach zu erklären: "Der Krieg kann auch uns jederzeit treffen."

Die Teamleiterin im Notquartier ringt nach Worten, zeigt sich beeindruckt von der Spendenbereitschaft – nicht zuletzt der KURIER-Leser, die nach dem Bericht in der Freitag-Ausgabe in großer Zahl helfen wollen.

"Das ist unglaublich erfreulich", sagt die Mitarbeiterin der Schweizer Firma ORS, die im Auftrag des Innenministeriums das Notquartier betreut. "Wir freuen uns aber auch weiterhin über Spenden. An sich ist ja die Grundversorgung für die Flüchtlinge gesichert. Besonders gefragt sind darüber hinaus Winterbekleidung, Schuhe, Spielzeug und funktionstüchtige Kinderwägen."

Und dann kommt eine ältere Frau aus dem fernen 23. Bezirk mit der U-Bahn in Erdberg an. Im Rollkoffer, den sie gleich mitschenkt, sind mehrere Teekannen drinnen. Sie erklärt dem Portier: "Ich hab’ mir gedacht, die Leute trinken sicher gerne Tee. Tee werdet ihr haben, aber vielleicht keine guten Kannen."

Der junge Portier der privaten Sicherheitsfirma nickt. Dann sagt er ehrlich: "Ich habe mich vor diesem Einsatz gefurchten. Ich wusste ja nicht, wie diese Flüchtlinge sind. Aber ich muss sagen, dass alle Menschen sehr, sehr korrekt sind." Offensichtlich ganz anders als in den Reden jener, die weiterhin nur Antistimmung erzeugen.

Über den teilweisen Stimmungswandel im Land freut sich auch Klaus Schwertner, der Generalsekretär der Caritas Wien. Rund 300 Menschen haben sich in den vergangenen Tagen alleine in Wien gemeldet. Besonders berührt hat ihn das Mail eines Auslandsösterreichers, der zurzeit in den USA auf seine Green Card warten muss und sein Haus in Mürzzuschlag gerne für die Flüchtlinge öffnen möchte.

Fein ist es auch, dass eine ganze Reihe von Ärzten dem KURIER-Aufruf gefolgt sind und spontan ihre Hilfe angeboten haben. So wie Caroline Fraihs, Allgemeinmedizinerin in Wien 13 und in Perchtoldsdorf. Sie sagt: "Ich hatte das Glück, eine tolle Ausbildung zu absolvieren. Jetzt, wo meine Kinder erwachsen sind, möchte ich ein bisschen von diesem Glück mit anderen teilen, die es bei Weitem nicht so gut getroffen haben."

Patenschaft als Option

Auch bei der Asylkoordination Österreich langten unerwartet viele Anfragen ein. Projektleiter Klaus Hofstätter freut: "Viele erwägen ernsthaft, eine Patenschaft für junge unbegleitete Flüchtlinge zu übernehmen."

Seit Samstag ist die Diakonie Österreich mit im Boot, das noch nicht voll ist. Direktor Michael Chalupka: "Schön, dass sich der KURIER für die Flüchtlinge einsetzt. Da wollen wir auch mithelfen." So wie sein Kollege von der Caritas betont Chalupka, dass vor allem Zeitspenden benötigt werden. "Wir suchen zum Beispiel noch dringend Ehrenamtliche für die Kinderbetreuung."

Abdul, der in Erdberg gelandete Deutschlehrer, dessen Hornhaut an den Füßen von seiner Flucht erzählt, erklärt in der Zwischenzeit: "Ich würde gerne wieder mit Kindern arbeiten." Allzu verständlich, ein Hilferuf an die Politik in diesem Land.

Weil der Krieg auch uns treffen kann

Drei Fotos. Sonst ist den Mahmouds nichts von ihrem alten Leben geblieben. Drei Fotos. Eines vom Haus, eines von den Kindern im Haus, eines von der ganzen Familie im alten Wohnzimmer. Als ihr Haus in Qamischli noch ihr Zuhause war. Als die kleine Stadt im Nordosten Syriens an der Grenze zur Türkei noch ihre Heimat war.

Heute hat die Familie Mahmoud mit Unterstützung der Caritas in einer kleinen Mietwohnung in Wien-Brigittenau ihr neues Zuhause gefunden. Ein Zuhause in Freiheit. Und in Sicherheit.

„Unser Leben in Syrien war sehr schön“, erzählt Vater Walid Mahmoud (50). „Ich hatte ein Lebensmittelgeschäft, wir hatten ein schönes Haus, wir waren glücklich.“ Bis Krieg und Zerstörung kamen. Und die IS-Terroristen. Fortan lebten Walid, seine Frau Hendea (40), die Söhne Yousef (20) und Shiar (16) und Tochter Yara (13) in ständiger Todesangst.

„Wir sind Kurden“, sagt Walid. „Am Anfang haben wir Drohbriefe bekommen, in meinem Geschäft haben Leute angerufen und gesagt, dass sie uns umbringen werden.“ „Wir haben dann die Kinder nicht mehr in die Schule geschickt und um sechs Uhr am Abend alle Türen zugesperrt“, erzählt Hendea. „Es gab keinen Alltag mehr, kein normales Leben. Wir alle waren nur noch ängstlich und traurig.“

Geköpft

Walid: „Dann haben sie direkt vor unserem Haus Menschen enthauptet und die Köpfe einfach weggeschmissen. Wir haben das alles gesehen. Und unsere Kinder auch. Eines Tages haben sie in einer Mülltonne gegenüber die Körper von toten Kindern gefunden.“

Geflüchtet

Als der jüngere Sohn Shiar dann auch noch um Haaresbreite einer Entführung entging, nur, weil er schneller lief als die Terroristen, verkaufte die Familie ihr gesamtes Hab und Gut. Haus, Grund, Auto. In einer Nacht im Oktober 2013 schließlich schnappte Walid seine Familie und flüchtete. Im Schutz der Dunkelheit liefen die Fünf zur nahen Grenze und schlüpften nur mit dem, was sie am Körper trugen, durch ein Loch – ein Schlepper hatte es für ein paar hundert Euro für sie in den Grenzzaun geschnitten.

„Die türkischen Soldaten haben auf uns geschossen“, sagt Walid, „wir sind so schnell es ging durch Gräben gekrochen, bis wir endlich an einer Straße waren.“ Im türkischen Nusaybin konnte die Familie eine Nacht bei einem Bruder von Hendea bleiben, der schon zuvor in die Türkei geflüchtet war – „in dieser Nacht waren wir 18 Leute in zwei kleinen Zimmern“.

Danach ging es für die Familie mit dem Bus weiter nach Denezli zu einer Tante und schließlich nach Istanbul. „Dort haben wir einen Schlepper gesucht.“ Sind die schwer zu finden? „Nein. Man muss einfach nur ins Aksaray-Viertel gehen. Dort sitzen Schlepper aus allen Herren Ländern in den Cafés herum und warten nur auf Leute wie uns“, sagt Walid.

Geschleppt

Auf verzweifelte Familien, die wie die Mahmouds 65.000 US-Dollar, ihr gesamtes Vermögen, auf den Tisch blättern und dafür innerhalb von drei Tagen fünf falsche türkische Pässe und fünf Flugtickets nach Wien bekommen. Um sofort bei der Ankunft in Schwechat, am 5. November 2013, von der Polizei festgenommen zu werden. „Wir haben den Polizisten dann unsere echten Pässe, die syrischen, gezeigt.“ Und um Asyl angesucht.

Fünf Tage blieben die Mahmouds auf dem Flughafen, es folgten weitere fünf Tage in Traiskirchen, ehe die Familie in einer kleinen Flüchtlingspension in Puchenstuben in Niederösterreich untergebracht wurde. „Dort waren wir dann vier Monate und zehn Tage“, sagt Walid.

Warum er das so auf den Tag genau weiß? „Weil die Tage dort so lang waren. Wir waren unglaublich froh, dass wir endlich in Sicherheit waren. Aber wenn man schlafen geht und nicht weiß, ob man am nächsten Tag noch hier sein darf. . . Das war schlimm. Wir hätten so gerne gearbeitet, aber wir durften nichts tun, wir konnten nur warten.“

Gerettet

Ende Februar kam dann endlich die erlösende Nachricht: Die Familie bekam subsidiären Schutz zugesprochen, darf also (vorerst) in Österreich bleiben. Jetzt besucht die ganze Familie Deutschkurse, „und wir üben auch jeden Tag miteinander, damit wir alle möglichst bald die Sprache gut sprechen und uns Arbeit suchen können“, sagt Hendea. „Und unsere Kinder hier studieren oder eine gute Ausbildung machen können.“

„Leute, die nicht Deutsch lernen wollen, wollen sich vielleicht nicht integrieren“, sagt Walid. „Aber wir wollen hier bleiben. Und wir möchten nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein. Das ist unhöflich. Wir bedanken uns sehr dafür, aber wir wollen bald selbst unsere Steuern bezahlen und zurückgeben können, was wir von Österreich bekommen haben.“ Heimweh haben die Mahmouds selten. „Wenn wir die Bilder aus Syrien sehen, denken wir: Zum Glück sind wir hier. Wären wir dort geblieben, wären wir tot.“

Auf dem Schreibtisch in dem schmucken Apartment im "St. Vitusheim" in Laa an der Thaya liegt ein Stapel Post, das Handy läutet unentwegt. Maria Loley, die in ihrem ganzen Leben nichts anderes getan hat, als anderen Menschen zu helfen, tut das noch immer.Gestern feierte die Begründerin des Vereines "Bewegung Mitmensch", die auch zu einem Briefbomben-Opfer von Franz Fuchs wurde, mit Freunden und Weggefährten im Bildungshaus in Großrussbach ihren 90. Geburtstag. Auch wenn die Füße nicht mehr so wollen, geistig ist die langjährige Flüchtlingshelferin aus Poysdorf topfit geblieben. Ihr Wort hat noch immer Gewicht – vor allem in der Asylfrage.

"Österreich ist ein wohlhabendes Land. Wir können teilen, ohne dass wir Angst haben müssen, arm zu werden", sagt Loley. Sie erinnert sich noch allzu gut an den Beginn des Krieges in Ex-Jugoslawien und die einsetzende Flucht von bosnischen Familien nach Österreich. Mehr als 500 Flüchtlinge wurden Anfang der 90er-Jahre in der Weinstadt Poysdorf und in den Orten in der Umgebung untergebracht. "Das konnte nur funktionieren, weil sich viele Familien dazu bereit erklärt hatten, Menschen aufzunehmen und ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben", sagt Loley. Der aktuellen Flüchtlingswelle aus Syrien könne man auch nur mit dem "Poysdorfer Modell" begegnen. Große Lager mit Baracken-Charakter oder Zeltstädte sind für Loley weder zeitgemäß noch menschenwürdig. "Die Leute sind traumatisiert und werden auf engstem Raum zusammengepfercht. Das geht gar nicht", sagt Loley.

Die "tiefe Betroffenheit" von einst sei aber nicht mehr vorhanden. "Die Leute haben kein Gefühl und kein Gespür mehr", sagt die gebürtige Poysdorferin. Ihr Herzenswunsch zum runden Geburtstagsjubiläum ist ein Appell an die Gesellschaft: "Bleiben wir Menschen mit Herz und Gefühl. Dann können wir auch die Flüchtlinge als Menschen achten."

Es ist ein sonniger Herbsttag, vergnügt spielen vier Kinder im Alter von zwei bis vier Jahren im Garten von Silvia Müller im südburgenländischen Kalteneck. Lächelnd gibt die 53-Jährige der kleinen Shahed Schwung auf der Schaukel, während ihr Bruder Mohammad mit dem Tretroller über den Rasen kurvt. "Sie sind meine Gäste und so hofier ich sie auch", sagt Müller.

Weil der Krieg auch uns treffen kann
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Erst im Februar ist Silvia Müller von Wien ins Burgenland gezogen. In ihrem neuen 350m² großen Haus hat sie derzeit acht "Gäste" untergebracht.Das Wort Flüchtlinge will sie nicht gebrauchen, "um den Klassifizierungen der Herkunft der Menschen ein Ende zu bereiten".

Die acht Personen – zwei Familien – bewohnen das Obergeschoß, das teilweise nagelneu eingerichtet ist.

Gelebte Integration sei ihr ein Anliegen: "Die Bedürfnisse aller sind mir wichtig zum Wohl des Ganzen", sagt Müller, die mit den Familien auch gemeinsame Ausflüge unternimmt. Unterstützung habe sie von Freunden und auch von Firmen erfahren, die Möbel und Hausrat gesponsert haben.

Das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen sei nicht immer einfach. "Wir müssen üben, uns auf einer Augenhöhe zu begegnen und lernen, jede geistige Haltung wertzuschätzen", sagt die Quartiergeberin. Gerade deshalb sei sie eine Verfechterin von kleinen Strukturen. Gewinn machen könne sie mit der Unterbringung der Flüchtlinge nicht. 9,50 Euro bekommt sie pro Tag und Nase.

Unterstützung bekommt die Unternehmerin vom Flüchtlingsreferent im Land, Wolfgang Hauptmann. "Es gibt derzeit eine große Welle der Solidarität mit den Flüchtlingen im Burgenland", sagt Hauptmann. Vor allem Privatpersonen stellen ihre Unterkünfte zur Verfügung. Für Hauptmann bedeutet das aber auch mehr Arbeit. "Ich muss ja die vielen kleinen Pensionen verwalten." Die Einrichtung größerer Unterkünfte scheitere hingegen oft am "Druck der örtlichen Politik".

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner unterstützt die KURIER-Flüchtlingshilfe. "Täglich erreichen uns nicht nur die Bilder des Mordens, des Terrors und der Verfolgung, sondern eben auch die Menschen, die genau davor fliehen und bei uns Schutz suchen. Diesen Menschen zumindest ein Dach über dem Kopf zu geben, ist einmal das Mindeste, das wir tun müssen."

Dass Wien zuletzt für die säumigen Bundesländer in die Presche gesprungen ist und neue Flüchtlingsquartiere geschaffen hat, kommentiert Mikl-Leitner so: "Dieser Akt der Hilfsbereitschaft ist ein Zeichen enormer menschlicher Stärke von Bürgermeister Michael Häupl – und ich bin ihm sehr dankbar dafür. Ich bin auch den Menschen in der Umgebung dankbar für ihr Verständnis. Und für jene, die Ängste und Sorgen haben, möchte ich ausdrücklich betonen: Hier kommen keine Kriminellen, sondern verängstigte Flüchtlinge – Menschen, die gerade noch dem Tod und dem Terror entfliehen konnten."

Klar sei aber auch, sagt die Ministerin, dass es auch innerhalb Europas "eine massive Schieflage gibt. Und das muss geändert werden, bevor das System kippt. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir uns letztlich mit unserer Forderung nach einer gerechten Quotenverteilung in ganz Europa durchsetzen werden."

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