Fahrt in die Finsternis: Der Vermisstenfall Baumgartner/Leitner

Fahrt in die Finsternis: Der Vermisstenfall Baumgartner/Leitner
Sie sind jung, sie sind lebensfroh und seit Jahren beste Freunde. Für die Freitagnacht haben sie Pläne gemacht. Doch am Samstag tauchen sie nicht mehr auf.

Wenn Karina Leitner über ihren Bruder Andreas spricht, tut sie das in der Vergangenheitsform. „Handwerklich war der Andi ein Geschickter“, sagt sie oder „Er war der Taufpate von meinem Sohn.“

Manchmal fällt es ihr auf, dann erschrickt sie. Es ist schleichend gekommen. „In den ersten ein zwei Jahren war das noch nicht so, aber dann habe ich gemerkt, dass ich sage er war, oder das war so. Es ist inzwischen einfach schon so lange her, dass du wahrscheinlich davon ausgehen musst, dass es einmal war.“

Fahrt in die Finsternis: Der Vermisstenfall Baumgartner/Leitner

Max Baumgartner (li.) und Andreas Leitner

Was ist schon so lange her und warum die Vergangenheitsform? Ist Andreas Leitner tot?

Seine Schwester weiß es nicht.

Das letzte, was Karina Leitner mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ihr Bruder bei seinem besten Freund, Max Baumgartner, zum Kartenspielen eingeladen war. Seit der Nacht vom 11. auf den 12. September 2015 fehlt von den beiden Männern jede Spur.

"Fast wie Brüder"

Max Baumgartner und Andreas Leitner wuchsen in kleinen Mühlviertler Gemeinden auf - in Zwettl an der Rodl und in Waxenberg. Beide Orte sind nur wenige Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt. Sie besuchten zusammen die Hauptschule und wurden beste Freunde. Sogar ihre Geburtstage liegen nur einen Tag auseinander.

Karina Leitner erinnert sich an die Verschwundenen

Als die beiden jungen Männer verschwinden, sind beide 26 Jahre alt. Sie sind geschickte Burschen, Max Baumgartner kann Maschinen reparieren, Andreas Leitner baut seinem Patenkind zur Geburt selbst einen Wickeltisch. Ganz selbständig ist Leitner aber noch nicht. Sein Vater ist früh gestorben, er lebt bei seiner Mutter, hat keinen Job und auch keinen Führerschein, was in der ländlichen Gegend, wo Wald, Hügel und weite Landstraßen zwischen den Ortschaften liegen, ungewöhnlich ist. Prüfungsangst hatte ihn davon abgehalten. „Er hat bei so etwas Angst gehabt zu versagen und die Nerven weggeschmissen, schon als Kind“, erzählt seine Schwester.

Max Baumgartner hingegen ist ein Auto-Freak. Er arbeitet als Mechaniker bei einem Mühlviertler Reisebus-Unternehmen. Auf Youtube teilt er Videos, die zeigen, wie er alte Fahrzeuge herrichtet. Er selbst fährt ein „Frankenstein-Auto“, wie Karina Leitner sagt. Aus drei alten Citroëns, die er extrem billig erworben hatte, schraubt er sich einen fahrtüchtigen Untersatz zusammen. Der Wagen ist silbergrau, dass er aus Altteilen zusammengebaut ist, erkennt man an den Türen. Ihre unteren Hälften sind schwarz lackiert. An der Heckscheibe klebt ein auffälliger oranger Sticker mit der Aufschrift „Erfolgreich mit“. Der Rest des Satzes ist nicht mehr lesbar.

Fahrt in die Finsternis: Der Vermisstenfall Baumgartner/Leitner

Max Baumgartners Auto

Dieses Auto mit dem behördlichen Kennzeichen UU 883 DP sollte mit den beiden jungen Männern verschwinden. Die Fahrt, die Baumgartner und Leitner in der Nacht von 11. auf 12. September antreten, sollte ihre letzte Spritztour werden.

Der letzte Abend

Heute beschäftigt sich die Cold-Case-Abteilung des Bundeskriminalamts in Wien zusammen mit dem Landeskriminalamt Oberösterreich mit dem Vermisstenfall Baumgartner/Leitner. Die letzten Stunden vor dem Verschwinden konnten die Ermittler minutiös nachvollziehen, wie LKA-Chef Gottfried Mitterlehner erzählt. Andreas Leitner sei gegen 17.00 Uhr von seiner Mutter Ernestine zu Max Baumgartner gebracht worden, der sich im Haus seiner Eltern in Zwettl an der Rodl gerade eine Wohnung eingerichtet hatte. Seine Eltern waren an diesem Abend nicht zuhause.

Chefermittler Mitterlehner: Was wir wissen

Zum Mittagessen nicht zurück

Ernestine Leitner wurde nervös, als ihr Sohn im Laufe des nächsten Tages nicht nach Hause kam. Normalerweise meldete sich Andreas, wenn er abgeholt werden wollte. Ernestine Leitner rieft ihre Tochter Karina an, die die Sorgen ihrer Mutter anfangs noch abtat. „Ich habe gesagt, ja mei, die werden halt einen zu viel getrunken haben, die schlafen noch“, sagt Karina Leitner. Doch ihre Mutter spürte, dass etwas nicht stimmte. Eigentlich legte ihr Sohn Wert drauf, zum Mittagessen wieder zuhause zu sein.

Als es Abend wurde und Andreas Leitner sich noch immer nicht gemeldet hatte, fuhr Karina Leitner mit ihrer Mutter zum Haus von Max Baumgartner, wo die beiden Frauen aber niemanden antrafen. Weil Ernestine Leitner schon zuvor die Polizei alarmiert hatte, kamen zur selben Zeit auch die Beamten beim Haus an. Sie verschafften sich Zutritt, fanden aber weder die beiden jungen Männer noch einen Hinweis auf ihren Verbleib. Auch Baumgartners Auto stand nicht wie sonst vor dem Haus. Nur das Handy ihres Bruders fand Karina Leitner im Wohnzimmer. Max Baumgartner hatte sein Handy mitgenommen, war aber nicht erreichbar.

Auf der Suche in den Wäldern

An die folgenden Stunden und Tage erinnert sich Karina Leitner sehr genau. Mit einem Freund klapperte sie alle Bekannten ihres Bruders ab, fragte, ob jemand etwas weiß. Doch sie bekam keinen einzigen brauchbaren Hinweis. Gemeinsam suchten Polizei, Freunde und Familie die dichten Wälder in der Umgebung ab. Doch nirgendwo gab es eine Spur von Baumgartner, Leitner oder dem Auto.

Dann, nach Tagen der Ungewissheit, endlich ein erster verwertbarer Hinweis: 50 Minuten nach dem letzten Anruf bei der Freundin hatte eine Verkehrskamera Baumgartners Auto aufgenommen, als es kurz vor 2.30 Uhr in einen Kreisverkehr im nur wenige Kilometer entfernten Bad Leonfelden einfuhr und ihn in Richtung Tschechien wieder verließ. Allerdings: „Wir wissen nicht, ob nur diese beiden Männer im Fahrzeug gesessen sind oder ob vielleicht jemand anderer das Fahrzeug gelenkt hat“, sagt LKA-Chef Mitterlehner: „Wir wissen nur, dass das Fahrzeug in Richtung Tschechien unterwegs war.“

Die Ermittlungen konzentrierten sich von nun an auf die Grenzgegend und das Nachbarland. Die Auswertung von Leitners Handy hatte ergeben, dass die beiden Freunde gegen 2.00 Uhr erfolglos versucht hatten, ein Taxi zu bekommen. Die Ermittler vermuteten, sie hatten im nahe liegenden Grenzgebiet noch ausgehen wollen.

Wieder gab es Suchaktionen in den Wäldern, diesmal auf der anderen Seite der Grenze. Einige davon organisierten die Familien der Verschwunden sogar privat. Doch weder die Suche mit Hunden noch jene per Helikopter aus der Luft war erfolgreich. Auch nicht, als im Herbst die Blätter von den Bäumen fielen und man das Gebiet aus der Luft besser einsehen konnte.

Karina Leitner über die Suche

Die Schwestern von Max und Andreas legten auch eine Facebook-Seite an, auf der sie Fotos ihrer Brüder posteten und immer und immer wieder um Hinweise baten. Im Dezember 2016 schrieb Max Baumgartners Schwester Monika auf der Facebook-Seite: „Es ist wie verhext, als hätte sich die Erde aufgetan.“ Um ihren Bruder zu finden, versuchte sie es schließlich sogar mit recht unorthodoxen Methoden. In ihrer Verzweiflung suchte sie Esoteriker und Wahrsager auf, die angaben, Kontakt zu den Vermissten herstellen zu können. Sie investierte viel Geld in Pendeln oder Karten legen - alles ohne Erfolg.

Der einzige Zeuge

Auch die Medien hatten in der Zwischenzeit vom Verschwinden der jungen Männer erfahren. Im April 2016, sieben Monate nach dem Verschwinden von Max Baumgartner und Andreas Leitner, ging dann nach einem weiteren TV-Beitrag ein Anruf bei der Polizei ein.

Am anderen Ende der Leitung war Günther S. Er sollte der einzige und zugleich wichtigste Zeuge in dem Fall werden. S. gab an, er erinnere sich, in der fraglichen Nacht Baumgartners Auto wahrgenommen zu haben -  im grenznahen Ort Vyšší Brod, zu Deutsch Hohenfurth. Später habe er dann zwei junge Männer bemerkt, die sich in breitem Mühlviertler Dialekt unterhalten hätten und sehr guter Stimmung waren. Ob es sich um die beiden Vermissten handelte, könne er aber nicht mit absoluter Sicherheit sagen.

Ab nun konzentrierten sich die Ermittlungen auf Vyšší Brod und die angrenzende Gegend. Der Ort zählt nicht einmal 3.000 Einwohner. Kommt man aus Österreich, passiert man zahlreiche Spielcasinos und kleine Shops entlang der Bundesstraße, die in den Ort führt. Überall gibt es Plakate und Leuchtwerbung für Billig-Angebote, etwa für Nageldesign oder Massagen. Der Ort selbst liegt inmitten von Wäldern. Im Herbst wird es hier früher dunkel und kalt als anderswo, hat man den Eindruck. Über den grünen Hügeln liegt der Geruch von verbranntem Holz.

Ermittler Mitterlehner über Vyšší Brod

Drei mögliche Varianten

In der Cold-Case-Abteilung in Wien hat man sich indes auf drei konkrete Möglichkeiten festgelegt, was mit Baumgartner und Leitner passiert sein könnte. „Suizid, einen Unfall oder allenfalls Fremdverschulden“, zählt Abteilungsleiter Kurt Linzer auf. Was ist davon am wahrscheinlichsten?

Cold-Case-Ermittler Linzer über die offenen Fragen

Als Baumgartner und Leitner verschwanden, hatten sie weder größere Mengen Geld noch ihre Reisepässe bei sich. Auf ihren Konten konnten seither keine Bewegungen mehr festgestellt werden. Dass die beiden freiwillig untergetaucht sind, schließt Karina Leitner daher aus. „Wenn du verschwindest, ohne einen Groschen Geld, ohne Ausweis, ohne Pässe, dann fällst du doch irgendwann auf“, sagt sie. „Das hätte auch überhaupt nicht gepasst. Der Max hat gerade eine Küche in seine Wohnung eingebaut und der Andi hat sich am Tag davor noch einen neuen Boden in sein Zimmer gelegt und ein neues Bett gekauft. Das tue ich doch nicht, wenn ich den Plan habe, wegzugehen.“ Gleiches gelte für die Theorie, die beiden Freunde könnten sich umgebracht haben.

Bleiben die Varianten Unfall oder Verbrechen.

Die Straße, die von Bad Leonfelden nach Vyšší Brod führt, ist kurvig, führt durch viele Waldstücke und ist schlecht ausgeleuchtet. Sobald die tschechische Grenze passiert ist, lässt die Qualität des Straßenbelags nach, immer wieder gibt es Schlaglöcher. Hatten Baumgartner und Leitner hier spät nachts einen Unfall, der bisher unbemerkt blieb? Liegt ihr Wagen in einem der zahlreichen Gewässer in der Gegend verborgen? „Wir haben den Moldau-Stausee absuchen lassen, und sehr viel unternommen, um ausschließen zu können, dass dieses Fahrzeug von der Straße abgekommen ist“, sagt LKA-Chef Gottfried Mitterlehner. Dennoch könne nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass das Fahrzeug vielleicht noch irgendwo liege.

Fahrt in die Finsternis: Der Vermisstenfall Baumgartner/Leitner

Aber noch eine andere Sache könnte gegen einen Unfall sprechen. In einem Bericht der Bezirksrundschau Urfahr Umgebung über den Fall ist die Rede von einer Handyortung am Montag nach dem Verschwinden: „Am Freitag, 11. September gingen die Mühlviertler in Zwettl fort. Baumgartner soll laut Landeskriminalamt um 0.30 Uhr mit dem Handy telefoniert haben. Dann wurde es abgeschaltet. In der Ortschaft Waldschlag (Gemeinde Oberneukirchen) soll Montagnacht nochmals ein Signal vom Handy abgegeben worden sein. Geortet werden kann es derzeit nicht.“, heißt es in dem Artikel.

Sollte Baumgartners Handy tatsächlich drei Tage nach dem Verschwinden wieder eingeschaltet worden sein? Von ihm oder jemand anderem? Warum so nahe an seinem Zuhause?

Ermittlungstaktisches Schweigen

„Grundsätzlich muss ein Handy, um geortet werden zu können, vollständig eingeschaltet sein, also auch der PIN eingegeben worden sein, zumal eine Abfrage vorgesehen ist“, erklärt Martin Ulbing, Experte für Handyortung bei der Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH. Dass das Handy sich im Bereich von Waldschlag einwählte, obwohl es sich eigentlich in Tschechien befand, hält er für möglich, vor allem, da 2015 in ausländischen Netzen noch Roaming-Gebühren anfielen, könne es sein, dass das Handy darum bevorzugt das Österreichische Netz anpeilte.

Auf den Zeitungsbericht über die Ortung angesprochen, gibt sich die Polizei verschwiegen. „Dazu kann ich aus ermittlungstaktischen Gründen nichts sagen, ich bitte um Verständnis, dass das polizeiinterne Informationen sind, die für die Öffentlichkeit nicht bestimmt sind“, sagt Kurt Linzer.

Sollte das Handy wirklich geortet worden sein, bleibt also die Frage, wer es drei Tage nach dem Verschwinden eingeschaltet hat und warum? Ist in Vyšší Brod tatsächlich ein Verbrechen passiert?

"Klein-Vietnam"

Einheimische bezeichnen die Gegend scherzhaft als „Klein-Vietnam“, denn Geschäfte, Nachtlokale und Marktstände entlang der B 161 befinden sich nahezu alle in asiatischem Besitz. In den Shops gibt es Gartenzwerge aus Kunststoff, bunte Billig-Bekleidung, Taschen, Feuerwerkskörper und – saisonabhängig - Oster- oder Weihnachtsdekoration zu kaufen. „Es ist allseits bekannt, dass man in diesen Shops auch verschiedene Drogen bekommt, wenn man so etwas haben möchte“, sagt LKA-Chef Mitterlehner.

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Laden in Vyssi Brod

Viele Einheimische glauben, Baumgartner und Leitner hätten sich in Tschechien auf die eine oder andere Art mit der „Vietnamesen-Mafia“ angelegt, hätten etwa eine offene Rechnung nicht zahlen können und wären deshalb samt ihrem Auto beseitigt worden. „Dass die Verbrecherbanden da oben nicht zimperlich sind, ist bekannt“, erzählt ein Einheimischer, der anonym bleiben möchte. „Wenn einer konsumiert hat und nicht zahlen konnte, ist es schon vorgekommen, dass der mit einem halben Ohrwaschel wieder heimgekommen ist“.

"Falsche Zeit, falscher Ort"

Auch die Familien von Baumgartner und Leitner sind sich sicher, dass die beiden Freunde Opfer eines Verbrechens wurden. „Ich glaube, dass sie in irgendetwas Schlechtes reingerutscht sind. Falsche Zeit, falscher Ort“, sagt Karina Leitner.

Die Polizei will sich auch darauf nicht festlegen. „Wir haben keinen Tatort, wir haben keine Spuren, die auf einen Konflikt zwischen den beiden oder mit jemand anderem hindeuten. Wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt einen Tatort gibt, und wenn ja, ob dieser Tatort in Österreich oder jenseits der Grenze liegt. Aber natürlich, wenn man alle Informationen, die wir haben, zusammenträgt, dann ist aufgrund der langen Zeit und der Tatsache, dass überhaupt keine Spuren aufgetaucht sind, doch ein Verbrechen das Wahrscheinlichste“, sagt LKA-Chef Gottfried Mitterlehner. Ihn hat das mysteriöse Verschwinden der beiden Freunde nie ganz losgelassen: „Das ist schon etwas, das mich persönlich beschäftigt. Mich würde wahnsinnig interessieren, was mit den beiden Männern in der fraglichen Nacht tatsächlich passiert ist. In erster Linie natürlich um den Angehörigen entsprechende Sicherheit zu geben“, sagt er.

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Leitner und sein Patenkind

Im September jährt sich das Verschwinden von Max Baumgartner und Andreas Leitner zum vierten Mal. Von Fremden wird Karina Leitner nur noch selten auf ihren Bruder angesprochen. „Gottseidank“, sagt sie. Im Oktober hätte ihr Bruder Geburtstag. Dann wird vor allem Mutter Ernestine schon Wochen vorher betrübt sein.

Hinweise an das Bundeskriminalamt unter der Nummer: (01)24836/985025.

Hier könnt ihr den gesamten Fall auch als Podcast nachhören - mit noch mehr Hintergründen und Interviews mit den Angehörigen und der Polizei, erzählt als True Crime Podcast:

 

 

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