"Das ist unerträglich": Koalitionskrach nach Abschiebungen
Sie nahmen alles, was sie finden konnten. Sie rollten Misttonnen und Einkaufswägen in den Weg; und wer derlei nicht fand, der setzte sich selbst streikend auf die Straße, um die Einfahrt zu blockieren: Am frühen Morgen des Donnerstags versammelten sich 160 Menschen vor einem Abschiebezentrum in Wien-Simmering, um eine, wie sie sagen, „grausame“ Abschiebung zu verhindern.
Drei Schülerinnen aus Georgien bzw. Armenien waren betroffen. Kinder und Jugendliche, die de facto ihr ganzes bisheriges Leben in Österreich verbracht haben.
Wie ist das möglich? Warum dürfen sie nicht bleiben? Gibt es keine Ausnahmeregelung? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen:
Worum geht es beim konkreten Fall eigentlich?
Laut dem KURIER vorliegenden Informationen besteht zumindest im Fall der georgischen Schülerin, der medial das größte Aufsehen erregt hat, formal kein Grund für Asyl. 2009 wurde von ihrer Mutter der erste Antrag auf Asyl gestellt und 2010 abgewiesen. Nach weiteren Anträgen reiste die Mutter 2012 mit ihrer älteren Tochter zurück nach Georgien. 2014 kam sie per Touristenvisum via Holland nach Österreich und stellte 2015 – nach der Geburt einer weiteren Tochter – neuerlich einen Antrag, der 2017 rechtskräftig abgewiesen wurde. Sie blieb, stellte wieder einen Antrag – und erhielt wieder eine negative Antwort. In Summe handelte es sich um fünf negative Asylverfahren, die mit fast identen Gründen abgelehnt wurden – und zwar von ordentlichen Gerichten.
Warum können Kinder, die in Österreich geboren sind, in ein Land abgeschoben werden, das sie kaum kennen?
Im Unterschied zu weiten Teilen von Nord- und Südamerika gilt in Österreich nicht das Geburtsortsprinzip („ius soli“), demzufolge man dort, wo man zur Welt kommt, auch eine Staatsbürgerschaft erhält. SOS-Mitmensch, Teile der Grünen sowie die migrantische Kleinstpartei SÖZ fordern, dass in Österreich geborene Kinder ein Recht auf einen österreichischen Pass bekommen sollen.
Könnten Wien oder Niederösterreich bei solchen oder anderen Fällen nicht ein „humanitäres Bleiberecht“ aussprechen bzw. anregen?
Nein. Die Möglichkeit, dass die Bundesländer in dieser Form Einfluss auf ein Aufenthaltsrecht nehmen, gab es nur bis ins Jahr 2014. Die Mitsprache der Länder wurde von SPÖ und ÖVP und unter Zustimmung der Bundesländer aufgehoben, die Kompetenz liegt seither beim Innenministerium. Als 2018 gut integrierte Familien in Vorarlberg und Salzburg abgeschoben werden sollten, versuchte der Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP), die Debatte um das Bleiberecht auf Ebene der Länder wieder anzustoßen. Er blieb ohne nachhaltigen Erfolg.
Hat der Fall irgendwelche Auswirkungen auf die aktuelle politische Debatte oder die Regierungslinie?
Kein Geringerer als Bundespräsident Alexander Van der Bellen zog Donnerstagabend in Zweifel, dass der rechtliche Spielraum ausgeschöpft worden sei. „Wurden die Kinder ausreichend gehört? Was ist mit den Rechten der Kinder?“ sagte er in einer Stellungnahme via Facebook.
Aber ändert das was an der Gangart der Koalition? Bei den Grünen rumort es jedenfalls. Asylsprecher und Anwalt Georg Bürstmayr war – wie Politiker von SPÖ und Neos – Donnerstagfrüh vor Ort bei der Protestaktion. Zwischen ÖVP und Grünen gab es bereits am Mittwoch Gespräche. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) habe dabei zugesichert, den Fall noch einmal genau zu prüfen, sagte Klubobfrau Sigrid Maurer dem KURIER, allerdings: „Wahnsinnig umfangreich kann diese Prüfung nicht ausgefallen sein. Ja, es sind Einzelfälle, aber der Minister hätte durchaus Spielräume gehabt“, so Maurer. Sei dem nicht so, müsse er für die Zukunft Vorschläge für Gesetzesänderungen auf den Tisch legen, wie etwa die Errichtung von Härtefallkommissionen.
Eine solche brachte auch Bundesparteichef Werner Kogler ins Spiel – als möglichen Ausweg, um Härtefälle abzufedern. Bürgermeister und Schuldirektoren könnten in der Kommission etwa ein Mitspracherecht bekommen. „Es besteht aber für uns alle eine politische Verpflichtung zur Menschlichkeit“, meinte Kogler. Es sei „ein Witz“, Kinder mitten in der Nacht abzuschieben, sagte Maurer: „Das ist unerträglich.“ Die Wiener Grünen nannten den Vorgang „unmenschlich“, „ungeheuerlich“ und „zynisch“.
Durchsetzen konnte sich die Bundespartei mit Vorschlägen im Asyl- und Migrationsbereich bisher jedenfalls nicht. Nehammers Position und die der ÖVP generell bleibt deutlich: Man sei menschlich vom Schicksal der Kinder betroffen, müsse aber davon unabhängig dem Rechtsstaat zum Durchbruch verhelfen.
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