Chancenhaus: Tiefer Fall, harter Aufstieg, Rückkehr ins Leben
Auf dem Bett liegen Decken, Überzüge, Handtücher. Die monotone Schlichtheit von Schrank und Tisch erfüllt den Anspruch, nur zweckmäßig zu sein. In einer weiß ausgefliesten Ecke ist ein Waschbecken installiert.
„Ein wenig Luxus“, sagt Barbara Trsek.
Sie lächelt nicht, erwähnt es beiläufig. So, als sollte der von der Unzerstörbarkeit des Wohlstands überzeugte Besucher auch kapieren, welch parallele Tatsachen hier täglich stattfinden. Auf das Notwendigste reduziert ist das Leben zwischen diesen nackten Wänden. Eine Daseinsform, die eigentlich nicht existent ist, im naiven Gedankenkonstrukt der eigenen Komfortzone.
„Lucky“ hat auf dem Bett Platz genommen. Er beschönigt nichts, weicht keiner Frage aus. Weil er genau weiß, wovon er spricht. Vom stets schneller werdenden Rotieren im Teufelskreis, vom anfänglichen „Alkoholkonsum so zum Spaß“, Trinken als Stütze, um das Selbstbewusstsein aufzumöbeln, vom permanenten „Saufen, um Angstzustände zuzuschütten“, und in letzter Konsequenz „als Betäubung, um auf einer Bank zwei Stunden Schlaf zu finden.“ Gnadenlos ist diese Anleitung zum unaufhaltsamen Abstieg. Nur ein Beispiel, wie schnell es abwärts gehen kann.
Für 150 Menschen (25 Frauen, 21 Paare und 83 Männer) sind die kühl ausgestatteten Zimmer in der Wurlitzergasse im 17. Bezirk der Ausgangspunkt auf dem Weg zurück in die Wärme, in die „Normalität“. Die nicht verlernt werden darf, was wiederum ohne Wahrung der Privatsphäre, ohne Halt und Struktur nicht funktionieren Könnte.
Klar und deutlich im Jargon der Verzweifelten erklärt: Die von der Wiener Wohnungshilfe treffend als „Chancenhaus“ titulierte Einrichtung bietet vielleicht die letzte Chance, „sich aus der Scheiße zu ziehen“. Für drei Monate ist der Aufenthalt befristet, nur in Ausnahmefällen verlängerbar.
Offene Türen
18 ist der jüngste, 89 Jahre der älteste Bewohner. Alter, Geschlecht, Nationalität (gut die Hälfte besitzt eine österreichische Staatsbürgerschaft), oder Herkunft sind ohne Belang. „Niederschwellig“ seien die Aufnahmebedingungen, erklärt Teamleiterin Barbara Trsek. Das Team besteht aus acht Sozialarbeitern, die im bürokratischen Labyrinth nach individuellen Lösungen auf der Suche nach Wohnung und Job zur Seite stehen. Ärzte und Psychologen sorgen für regelmäßige Betreuung. 30 weitere Mitarbeiter kommen aus verschiedensten Bereichen.
„Lucky“ ist einer von ihnen. Der 56-Jährige ist seit zwölf Jahren „trocken“, hat eine mehrmonatige Peer-Ausbildung (peer, engl. = Gleichgesinnter) absolviert, gilt als Experte, der seine Erfahrung zum Beruf gemacht hat und an Betroffene weitergibt. „Denn es ist wichtig, mit Leuten zu reden, die dich wirklich verstehen.“ Ein Prinzip, das Lucky auch in Sitzungen bei den Anonymen Alkoholikern zu nützen wusste.
Der Fonds Soziales Wien (FSW) hat 1.000 Betroffene nach den Gründen ihrer Wohnungs- und Obdachlosigkeit befragt: Arbeitslosigkeit (40 %), leichtsinniger Umgang mit Finanzen (30 %), Trennung vom Partner (29 %), psychische Probleme (23 %). Ein garantiert dichtes Sicherheitsnetz gibt’s nicht, „erwischen kann es jede und jeden“, sagt Barbara Trsek.
In der Falle
Hinter „Lucky“ liegt das klassische Schicksal. Jobverlust, Alkoholsucht, gesundheitliche Probleme, Scheidung, Schulden, Delogierung, Obdachlosigkeit. Was das bedeutet? „Die dauernde Suche nach einem Ort, an dem man sich aufwärmen kann. Man wird rausgeschmissen, bekommt Probleme mit der Polizei. Und immer sollst du deine Geschichte erzählen, spielst was vor, wirst aufgefordert, sich doch gefälligst eine Hack’n zu suchen.“ Ein ständiger Kampf und wahnsinniger Stress. „Das ist kein Leben, nur noch ein Überleben.“
Auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt hat „Lucky“ Leute angeschnorrt. Um ein paar Euro. Als „nützlich“ stellte sich die Doppelmoral der Gesellschaft heraus: „Alkohol ist überall verfügbar. Wenn du im Supermarkt welchen kaufst, bist du in diesem Land kein Außerirdischer.“
Losgelöst
Hilfsangebote anzunehmen, verhindert zunächst die Scham, als Versager zu gelten. Viel Willenskraft erfordert es, diese Schwelle zu überwinden: „Wichtig war, die eigenen guten und auch schlechten Seiten anzunehmen, sich zu lösen von Leuten aus dem Umfeld, in dem du festgefahren bist. Das ist verdammt schwer.“
Für die Hälfte der Menschen aus dem dauerhaft voll besetzten Chancenhaus in der Wurlitzergasse kann regelmäßig eine eigenständige Wohneinheit, eine betreute Unterkunft oder eine Wohngemeinschaft vermittelt werden. Zur Zuversicht tendiert der Zwischenstand in den Zeiten der Pandemie: In Wien hielt sich im Vergleich zu anderen europäischen Städten die Praxis der Delogierungen und die damit verbundene Erhöhung von Wohnungs- und Obdachlosenzahl in Grenzen.
„Keine Wohnung bedeutet keine Stabilität und ergibt wenig Chance auf Ausbildung oder Job“, lautet die Formel. „Lucky“ wiederholt sie. Mehrmals. Niemand weiß besser, wie richtig sie ist.
Kältetelefon: Sie sind sich unsicher, ob der Mitmensch auf der Straße die Nacht in Wien überlebt, rufen Sie bitte das Kältetelefon der Caritas: 01 / 480 45 53.
Warme Suppe: Im „Häferl“ der Diakonie (unter der evangelischen Kirche in Wien-Gumpendorf) können Sie beim Kochen helfen. Infos hier.
Medikamente für Arme: Sie haben zu Hause noch Medikamente, die Sie nicht mehr brauchen: die Ambulanz AmberMed, die von Rotem Kreuz und Diakonie in Wien-Inzersdorf eingerichtet wurde und von Freiwilligen am Leben erhalten wird, nimmt sie. Infos hier.
Den AUGUSTIN kaufen: Die Obdachlosenzeitung bekommt seit 26 Jahren keinen Euro Förderung. Es geht ihr und ihren Verkäufern – wieder einmal – miserabel. Infos hier.
Für ein Frühstück im Park: Die Zivilgesellschaft hilft in Mariahilf Obdachlosen und kann Spenden gut brauchen. Infos hier.
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