Sozialforscher Martin Schenk über die Armut in der Pandemie

Sozialforscher Martin Schenk über die Armut in der Pandemie
„Plötzlich war auch die soziale Wärme weg“: Der Lockdown trifft Obdach- und Wohnungslose besonders hart.
Von Uwe Mauch

Martin Schenk, Mitarbeiter der evangelischen Diakonie und Mitbegründer der Armutskonferenz, forscht seit Jahren zum Thema. Er kann nicht nur nackte Zahlen vorlegen, er hat auch viele Betroffene befragt.

KURIER: Herr Schenk, wie viele Menschen leben in Österreich auf der Straße?

Martin Schenk: Das können wir mittlerweile relativ genau sagen. Dank einer Erhebung der Statistik Austria waren 2018 exakt 22.741 Menschen obdach- oder wohnungslos. Zur Definition: Obdachlose leben mehrheitlich auf der Straße, Wohnungslose in betreuten Einrichtungen.

Sozialforscher Martin Schenk über die Armut in der Pandemie

Erfasst die Statistik alle?

Nein. Es gibt zusätzlich eine verdeckte Wohnungslosigkeit, vor allem von Frauen, die schutzlos in Wohnungen von Männern unterkommen, von denen sie abhängig sind.

Hat die Pandemie die Lage für Obdach- und Wohnungslose verschärft?

Vor allem zu Beginn, als auch soziale Einrichtungen in den Lockdown mussten. Da wurde deutlich, dass es nicht nur darum geht, dass die Leute eine warme Suppe bekommen. Plötzlich war auch die soziale Wärme weg: das Zusammensitzen an einem sicheren Ort, das Plaudern, eine Umarmung. Ich habe von vielen gehört, dass niemand mehr zuhören wollte. Auch die AUGUSTIN-Verkäufer haben Probleme.

Droht so eine Misere in diesem Winter wieder?

Ja. Es kommt aber noch etwas hinzu: Nach der Finanzkrise 2008 haben wir gesehen, dass die Krise die prekär Lebenden erst mit einer Verzögerung von drei bis fünf Jahren hart getroffen hat. Das droht jetzt wieder, wenn Stundungen für Kredite auslaufen oder Sozialleistungen gekürzt werden.

Wien gilt international als Vorbild. Zu Recht?

Für eine Zwei-Millionen-Stadt hat Wien das Problem der Obdach- und Wohnungslosigkeit relativ gut im Griff. Das hilft jedoch keinem einzigen der 12.550 akut Betroffenen.

Wo sehen Sie aktuell deren größtes Problem?

Ich habe bei mehreren Obdachloseneinrichtungen nachgefragt. Alle sind sich einig: Das Angebot an Betreuungseinrichtungen ist gut, doch das Problem ist der Wohnungsmarkt. Aufgrund der explodierenden Preise fehlen österreichweit derzeit 25.000 leistbare Wohnungen.

Kältetelefon: Sie sind sich unsicher, ob der Mitmensch auf der Straße die Nacht in Wien überlebt, rufen Sie bitte das Kältetelefon der Caritas: 01 / 480 45 53.

Warme Suppe: Im  „Häferl“ der Diakonie (unter der evangelischen Kirche in Wien-Gumpendorf) können Sie beim Kochen helfen. Infos hier.

Medikamente für Arme: Sie haben zu Hause noch Medikamente, die Sie nicht mehr brauchen: die Ambulanz AmberMed, die von Rotem Kreuz und Diakonie in Wien-Inzersdorf eingerichtet wurde und von Freiwilligen am Leben erhalten wird, nimmt sie. Infos hier.

Den AUGUSTIN kaufen: Die Obdachlosenzeitung bekommt seit 26 Jahren keinen Euro Förderung. Es geht ihr und ihren Verkäufern – wieder einmal – miserabel. Infos hier.

Für ein Frühstück im Park: Die Zivilgesellschaft hilft in Mariahilf Obdachlosen und kann Spenden gut brauchen. Infos hier.

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