Seit Beginn der Corona-Krise haben sich die Anfragen bei den Sozialberatungsstellen der Caritas verdoppelt. Und auch bei den Lebensmittelausgaben ist der Anstieg deutlich. „Vor Corona habe ich so ziemlich alle Menschen hier gekannt. Jetzt vielleicht ein Drittel“, sagt Ender, der hauptamtlich bei der Caritas arbeitet.
Offizielle Zahlen der Statistik Austria zum Anstieg der Armut gibt es erst Ende des Jahres. Aber eine Studie der Universität Wien untermauert den Eindruck der Caritas. Demnach ist seit März die Zahl der Haushalte, die mit wenig Einkommen auskommen müssen, gestiegen. Höhere Einkommensschichten hingegen verzeichnen nur geringe Einbußen. „Es sind immer die Schwächsten, die in einer Krise am härtesten betroffen sind“, erklärt Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien. Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Mindestpensionistinnen. Bereits geringe Einbußen oder Mehrkosten können hier laut Schwertner das Zünglein an der Waage sein, sodass sie auf Hilfe angewiesen sind, wie Kurzarbeit, Kosten für den Schulbeginn oder das Heizen. Diese Einschätzung teilt auch die Armutskonferenz. Dies würden allein die steigenden Anträge zur Mindestsicherung zeigen. Durch die Krise würden sich auch immer mehr Menschen ohne Armutserfahrung an die Caritas wenden, sagt Schwertner. Taxifahrer, Künstler, Beschäftigte der Eventbranche und Gastronomie.
Auch Beate hätte nie gedacht, in solch einer Situation zu landen. Sie arbeitete als Floristin und leitete zuletzt eine Filiale in Wien. Doch dann erkrankte sie schwer an Rheuma. „Die nasse und kalte Umgebung hat mir überhaupt nicht gutgetan“, erzählt sie. Sie ging in Krankenstand, den sie immer weiter verlängern musste und wurde letztlich gekündigt. Bis die staatliche Hilfe griff, habe sie ein Monat lang ohne Geld auskommen müssen.
Eigentlich wollte sie als Floristin in Pension gehen. Jetzt aber könne sie den Beruf nicht mehr ausüben. „Bei einem schweren Schub bin ich auf den Rollator angewiesen“, sagt Beate. Manchmal wirkt die fröhliche Frau in dem roten Sommerkleid so, als könnte sie ihre Lebensgeschichte selbst kaum glauben. Früher ging sie gern wandern und klettern. Jetzt aber hofft sie, dass ihr Antrag auf Invaliditätspension durchgeht.
Der erhöhte Bedarf samt Corona-Auflagen war auch für die Caritas nicht leicht zu bewältigen. Von einem Tag auf den anderen verlor die Organisation 80 Prozent der Freiwilligen. Sie sind über 65 Jahre alt und gehören damit selbst zur Risikogruppe. Doch ein großer Aufruf im März brachte eine Überraschung. „Allein in Wien haben sich 4.000 Freiwillige gemeldet“, sagt Schwertner. Darunter vor allem Studierende, die nicht auf die Uni konnten. Aber auch Menschen in Kurzarbeit, wie Natalija. Die 23-Jährige arbeitet als Flugbegleiterin. Durch Kollegen wurde sie auf die Freiwilligensuche aufmerksam. „Es gab keinen Flugbetrieb und anstatt Zuhause herumzusitzen, wollte ich etwas machen.“ Zuerst half sie im Lager, jetzt wechselt sie sich bei der Corona-Nothilfe-Hotline und bei der Lebensmittelausgabe ab. „Mittlerweile kenne ich die Kunden und weiß, was sie gerne mögen“, sagt Natalija.
Um die Hygiene-Auflagen zu erfüllen, stellte die Caritas auf Notbetrieb um. Heißt: Die Lebensmittelpakete werden fertig geschnürt ausgegeben, zuvor konnten die Menschen wie auf einem Markt aus den Produkten wählen. Dabei ist die Caritas auf Spenden der Supermärkte angewiesen, die Ware aufgrund des Ablaufdatums oder einer Beschädigung aussortieren. Zum Glück gebe es immer genügend. Trotzdem stellen sich die Menschen hier schon lange vor Beginn an. „Sie haben Angst, dass sie nichts mehr bekommen.“
Klaus Schwertner rechnet damit, dass sich die Situation für Menschen mit prekären Einkommenssituationen im Herbst und Winter weiter verschärfen wird. „Wir werden einen langen Atem in der Hilfe brauchen.“ Zwar habe die Regierung wichtige Maßnahmen gesetzt. Das betont auch das Sozialministerium. So wurde die Notstandshilfe auf Höhe des Arbeitslosengeldes angehoben, ein Familienhärteausgleich zur Verfügung gestellt und die Antragseinbringung für die Mindestsicherung vereinfacht. Ab Herbst wird zudem eine Nationale Strategie zur Armutsvermeidung verhandelt. Schwertner fordert aber zusätzlich eine Erhöhung der Ausgleichszulage, der sogenannten Mindestpension, auf 1.000 Euro. „Ansonsten wird die Kluft zwischen Arm und Reich noch größer und das schwächt auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“
Beate hat ihren Einkaufstrolley mittlerweile gefüllt. Sie wartet vor der Pfarre auf die Heimhilfe, die sie abholt. Sie unterstützt die 41-Jährige im Haushalt. Beate ist gut gelaunt, jetzt kommt sie wieder eine Woche lang über die Runden. „Weil wenn ich die Fröhlichkeit verliere, ist es vorbei.“
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