Superintendent über seinen Blutkrebs: "Tief nach unten gegangen"
Gerold Lehner (60) ist evangelisch-lutherischer Theologe und seit 2005 Superintendent der Diözese Oberösterreich.
KURIER: Wie geht es Ihnen?
Gerold Lehner: Ich komme gerade von der Dialyse, die ich drei Mal in der Woche absolviere. Beide Nieren haben ihre Funktion eingestellt und ich habe zusätzlich eine Stammzellentransplantation zur Bekämpfung des Blutkrebs hinter mir.
Von den fehlenden Haaren abgesehen machen Sie einen gesunden Eindruck.
Glücklicherweise. Die Stammzellentransplantation hat Ende November begonnen. Man ist drei Wochen im Krankenhaus. Die erste Woche hat man das Gefühl, es geht einem eh gut, man weiß gar nicht, warum alle so ein Tamtam machen. Ab der zweiten Woche geht es abwärts. Und dann zu Hause fühlte ich mich, als hätte man den Stecker gezogen.
Wir haben im Büro eine Pflanze stehen, bei der wir manchmal vergessen, sie zu gießen. Dann lässt sie alles hängen. Genauso habe ich mich gefühlt. Das waren sieben Wochen, in denen Energie und Spannkraft völlig weg sind.
Man kann sich nicht konzentrieren, man sitzt irgendwo und schaut ins Nirwana. Das ist nach Neujahr besser geworden. Dann ist man sehr froh. Es ist die Spannkraft wieder da, ich kann wieder arbeiten und mich konzentrieren.
Eine so schwere Krankheit ist menschlich eine sehr große Herausforderung. Wie bewältigen Sie das?
Es ist vom absoluten Höhepunkt tief nach unten gegangen. Ich wurde vergangenen Juli 60. Die Diözese hat ein kleines Dankesfest gemacht. Ein befreundeter Arzt ist noch während der Feier zu mir gekommen und hat mir gesagt, du gefällst mir nicht, ich melde mich morgen bei dir.
Er war hartnäckig, er hat mir auch gleich einen Termin organisiert, am Dienstag war Blutabnahme. Der Arzt hat sofort gesagt, dass die Nieren nicht mehr funktionieren und dass wir eine weitere Untersuchung benötigen. Diagnose: multiples Melom, sprich Blutkrebs. Das war schon heftig.
Die Situation war für mich insofern nicht ganz neu, weil ich vor 14 Jahren schon einmal an Darmkrebs erkrankt bin. Das war damals völlig unverhofft, da hat es mich eiskalt erwischt.
Es trifft einen ziemlich, wenn die Ärzte sagen, sie können keine valide Prognose abgeben. Man kann in einem halben Jahr tot sein, aber man kann auch noch zehn Jahre leben. Aber beide Krankheiten wird man nicht los. Sie sind nicht therapierbar.
Auf einmal taucht man in einen Nebel, wo vorher der Weg völlig klar war. Noch vier Jahre bis zur Pension. Man weiß nicht, kommt die Wand, kommt sie nicht? Das ist heftig, denn man muss sich auf den schlimmsten Fall einstellen.
Es ist für mich eine Doppelerfahrung. Auf der einen Seite ist es für mich nicht dramatisch, weil damals wie heute der Gedanke überwogen hat, danke, das Leben war gut.
Es gibt nur einen Punkt, der hart ist. Nämlich, dass man mit einem Menschen zusammenlebt, mit dem man das Leben teilt. Eigentlich wollte man miteinander alt werden. Das ist der einzige Punkt, an dem die Tränen fließen. Sonst ist es, was es ist.
Sie beschäftigen sich hauptberuflich mit dem Glauben. Wie geht es Ihnen damit?
Eigentlich gut, wenn vielleicht auch nicht so, wie man es sich landläufig vorstellen könnte. Es hat sowohl im Krankenhaus als auch zu Hause Phasen gegeben, in denen ich nicht mehr gebetet habe. Trotzdem ist der Boden unter den Füßen nicht weg. Der Boden trägt.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass man nicht selber glauben muss. Es sind andere da, die für mich glauben. Es war eine ganz starke Erfahrung, dass sich sehr viele Menschen gemeldet haben. Meine Sekretärin hat etwas initiiert. Sie hat Menschen motiviert, mir einen Text zu schicken oder einen Gruß zu schreiben. Für jeden Tag gab es ein Blatt mit einem Text.
Dieses Netz der anderen, die für dich beten oder an dich denken, ist großartig. Das trägt auch, wenn man selbst am Trockenen sitzt. Ich weiß, dass viele dafür beten, dass ich gesund werde. Aber ich frage mich umgekehrt: warum ausgerechnet ich? Ich sehe rundherum Menschen, denen es deutlich schlechter geht. Warum soll ich jetzt kommen und sagen, ich hätte gerne das und das? Andere würden es viel mehr brauchen.
Gibt es so etwas wie eine Solidarität im Leiden? Entscheidend bleibt für mich, dass Gott mir etwas zumutet, und es in erster Linie darum geht, mich in der Situation zu bewähren und nicht darum, ihr zu entkommen.
Menschen in ähnlichen Situationen empfinden derartig schwere Krankheiten als Strafe. Sie haben ein Leben nach den Regeln Gottes und der Kirche gelebt, trotzdem werden Sie mit dieser schweren Krankheit bestraft.
Das kann ich natürlich verstehen und nachvollziehen. Ich habe einen anderen Zugang. Mir war von klein auf klar, dass Gott den Großen im Glauben, den Vorbildern gar nichts erspart hat. Das war oft genug ein Weg direkt ins Leiden. Vielleicht nicht mit Krankheit, sondern mit Folter, Hinrichtungen, usw.
Gott nimmt seine Kinder nicht heraus. Wir leben in einer Welt, die alle Anzeichen einer schönen Welt hat. Und zugleich leben wir in aller Welt, wo dieses Gefallensein, wo Schuld, wo gegenseitige Gewalt da ist. Gott nimmt uns da nicht heraus, genauso wenig, wie er sich selbst nicht herausgenommen hat. Er ist in der Inkarnation Mensch geworden und hat das auf sich genommen.
Der Grazer Psychologe Michael Lehofer stellt das Bild des allmächtigen Gottes infrage und meint, die Christen glauben an einen leidenden Gott. Einen Gott, der die Menschen in ihrem Leiden begleitet. Ist das so?
Man kann das so sagen. Allmacht möchte man immer dann gerne in Anspruch nehmen, wenn etwas für mich schiefläuft. Wenn es so etwas wie Freiheit für den Menschen gibt, dann muss diese Freiheit Konsequenzen haben. Wir stehen in einer Welt, wo es Leiden gibt.
Wir können jetzt nicht einfach eine Sonderbehandlung beanspruchen. Wenn es diese Welt ist, die Gott geliebt hat, dann ist es auch unsere Sache, daran teilzuhaben. Da gehört auch Krankheit dazu.
Wenn wir glauben, dass Gott Mensch geworden ist, dann war er selbst bereit, sich das anzutun. Wir glauben an einen Gott, der da ist und mitgeht, der mitleidet. Aber wir glauben natürlich auch, dass der Tod nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas ist, das sich weitet. Dass es eine neue Welt geben wird. Wie es im Buch der Offenbarung heißt: Siehe, es wird kein Geschrei mehr sein, kein Schmerz mehr und kein Tod. Siehe, ich mache alles neu. Das ist ein großes Hoffnungsbild.
Ändert sich Ihr Glaube aufgrund der direkten Konfrontation mit dem Tod?
Die Dinge, die sich vor 14 Jahren bewährt haben, bewähren sich jetzt auch. Auch die Einstellung, die ich damals gewonnen habe, hält und trägt. Es gibt eine Geschichte im Johannesevangelium, wo Jesus zu Petrus sagt: Als du jünger warst, hat du dich selber gegürtet und bist gegangen, wohin du wolltest. Wenn du älter wirst, wird ein anderer dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst. Das war für mich ein Schlüsselsatz.
Das eine sind meine Gedanken und meine Pläne, das andere ist, dass mir etwas widerfährt, etwas zugemutet wird, von dem ich nicht sagen kann, das hat diesen oder jenen Sinn, damit ich dieses oder jenes lerne. Wo mir einfach etwas aufgegeben ist, um mich darin zu bewähren. In meinem Vertrauen, in meiner Hoffnung, in meiner Liebe, trotz dem, was da ist.
Das, was ich bekommen habe, Studium, Pfarramt, Ausbildung, das Amt des Superintendenten, waren tolle Herausforderungen und beglückende Erfahrungen. Der Grundton gegenüber meinem Leben ist Dankbarkeit. Und dieses Gefühl färbt alles andere ein.
Die christlichen Kirchen in Oberösterreich, sowohl die römisch-katholische (2022: minus 1,83 Prozent) als auch die evangelische (2022: minus 1,82 Prozent) sind seit Jahren mit Austritten konfrontiert. Warum dieser beständige Abwärtstrend?
Kirchliches Versagen ist ein Teil davon. Es gibt aber auch Unterströmungen, die gewaltig sind. Eine davon ist, dass vor 80 bis 60 Jahren ein völliger gesellschaftlicher Umbruch stattgefunden hat. Damals war klar, dass man zu bestimmten Bereichen einfach dazugehört hat. Kirche war einer davon.
Es war oft nicht die eigene Entscheidung, sondern man war dabei, weil es sich so gehörte. Nur es gehört sich so gibt es nicht mehr. Das ist der gewaltige Umbruch, der sukzessive erfolgt ist.
Der Trend des Individualismus verstärkt das. Damit hat man eine langfristige Unterströmung, gegen die nicht anzukommen ist. Sie deckt das auf, was vorher schon da war. Es gab zwar viele Mitglieder, aber die innere Beziehung war nicht da. Wenn heute die innere Beziehung nicht da ist, braucht man auch die Institution nicht.
Zu Weihnachten war von der Entchristlichung Europas die Rede. Geht der Gesellschaft dadurch etwas verloren?
Kirche ist gut, wo sie für die Menschen etwas tut, im Wirken von Caritas und Diakonie. Aber was die Gesellschaft mit der Entchristlichung wirklich verliert, ist ein transzendentes Gegenüber. Kirche sagt, es gibt eine Instanz, die außerweltlich ist, die nicht in der Welt aufgeht und der gegenüber wir verantwortlich sind.
Wer bist du, Gesellschaft, wenn du deine Sachen nur mehr untereinander verhandelst und kein absolutes Gegenüber hast, das dich herausfordert, dich zurechtweist? Wenn du nur untereinander Interessen aushandelst, wie wir das in einer pluralistischen Gesellschaft tun, dann bist du letzten Endes dir selbst ausgeliefert.
Ich mag es nicht, wenn man von christlichen Werten redet. Das impliziert, man könnte sie relativ schnell wieder revitalisieren. Werte hängen ganz massiv mit Geschichten und Erfahrungen zusammen. Nächstenliebe als Wert ist eine Abstraktion.
Aber wovon kommt Nächstenliebe? Aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Erst im Erzählen sieht man, was das ist. Wir verlieren diesen narrativen Kontext und glauben, dass wir trotzdem den Wert erhalten können. Das stimmt nicht, weil keiner mehr weiß, was mit der Nächstenliebe gemeint sein soll.
Ich glaube, dass die Gesellschaft mit der zunehmenden Säkularisierung ihr kirchliches Gegenüber verliert, aber wir einander brauchen würden. Die Kirchen, die Religionen brauchen durchaus auch die säkulare Gesellschaft, weil sie permanent in der Gefahr stehen, wenn sie selbst die Macht haben, andere zu unterdrücken und auszuschließen. Das verhindert die säkulare Gesellschaft, weil hier der Staat eine Grenze zieht.
Wenn andererseits ein Staat nur sich selbst überlassen ist und er keinen anderen Bezug hat, verliert er auch etwas. Ich halte den Transzendenzverlust für einen wirklichen Verlust.
Alle großen gesellschaftlichen Gruppen wie zum Beispiel die Parteien verlieren an Größe, sie werden kleiner. Deswegen müssen sie nicht unbedingt an Einfluss und Macht verlieren.
Das kann sein. Wir Kirchen sind mit einer Menge an Problemen konfrontiert. Die Austritte, sinkende Beiträge, die Folgen von Corona, etc. Wir stehen permanent in Versuchung, die Dinge sofort anzugehen. Wir setzen uns hin und überlegen uns, was können wir pragmatisch dagegen tun.
Das ist der falsche Ansatz. Bestimmte Probleme kann man nur indirekt angehen. Dass Kirche sich wieder darauf besinnt, dass es nicht unser Job ist, die Kirche zu erhalten. Weder zu vermehren noch zu vermindern.
Unsere einzige Aufgabe ist der Auftrag Jesu, ihm nachzufolgen. Das kann man durchbuchstabieren, wie liebe deinen Nächsten, liebe deine Feinde usw. Dazu sind wir aufgerufen. Wenn Kirche das tut, wird sie indirekt auch etwas erreichen. Dann tritt der Effekt der Ausstrahlung wieder ein.
Ihn erreicht man nicht direkt. Man erreicht ihn nur, wenn man sich auf das Eigene konzentriert. Das war die Situation der ersten drei Jahrhunderte. Warum ist die Kirche damals so schnell gewachsen? Weil diese Strahlkraft da war. Das hat sich geändert, als Kirche sich selbst wichtig geworden ist. Dieser Ansatz würde uns auch ein wenig entlasten und Angst nehmen.
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