Rainer Baumgartner nimmt einen Glasbehälter vom Regal. Er ist voll mit kleinen, gelblichen Kügelchen. Senfkörner. "Nehmen Sie ein paar heraus und zerbeißen Sie sie", bittet er mit einem erwartungsvollen Lächeln im Gesicht zur Kostprobe.
Vier, fünf kleine Senfkörner machen vorerst einmal - nichts. "Es ist leicht strohig, dann kommt der Spargelgeschmack", begleitet Baumgartner den senfunkundigen Gast beim Entdecken der Geschmackswelt dieser Pflanze in der Senferei "Annamax" in Bad Goisern im Salzkammergut.
Dann braucht er nichts mehr zu sagen. Es wird scharf, auf der Zunge, im Mund, am Gaumen. Sehr scharf. "Das sind die Glykoside im Senfkorn, die mit Flüssigkeit so reagieren", erklärt Baumgartner, während er ein Glas Wasser reicht.
Gastronom, Greißler und Senfspezialist
Rainer Baumgartner ist bald 60 und gibt gerne seinen Senf dazu. Das hat er als Gastronom in der Region gemacht, als er 1995 sein erstes Wirtshaus im Ausseer Land eröffnet hat. Und zuvor bei Lauda Air oder auf seiner Reise durch die Welt.
Später hat er eine Greißlerei eröffnet und ist ein richtiger Senf-Fan geworden. "Aber ich habe mir schon als Kind Senf auf das Butterbrot gegeben, mir hat der immer besser geschmeckt als das Ketchup", erinnert sich Baumgartner.
Für die Greisslerei hat er gute Senfprodukte gesucht - und zumindest in Österreich nicht gefunden. "Für ein Catering bei einem alten Grafen auf seiner Jagdhütte habe ich das erste Mal Senf selbst gemacht", erzählt er, wie naiv er ins Senfmachen gestolpert sei.
Aus Glücksfall und Rückschlag wurde Leidenschaft
"Der erste Senf war extrem gut", ist er heute noch stolz. Aber er weiß auch, dass das ein Glücksfall war: "Beim zweiten Mal hatte ich wieder kein Rezept und keine Erinnerung." Und es hat nicht funktioniert. Was seine Leidenschaft erst recht angefacht hat. "Ich war wie besessen", erzählt er vom Eintauchen in ein zuvor unbekanntes Universum, "dann ist es in mir explodiert."
2011 hat Baumgartner begonnen, ins Senfgeschäft zu investieren, seit 2017 macht er nur noch Senf. Und zwar in der Senferei in Bad Goisern. Früher war das ein Konsum, jetzt ist es eine Schausenferei mit einem kleinen, aber feinen Laden. 2018 eröffnet die Senferei Annamax, benannt nach Baumgartners Kindern, mittlerweile ist sie mit 3.000 Besuchern pro Jahr ein Leitbetrieb in Bad Goisern.
Steinmühle als Herzstück
Das Kernstück steht hinter einem großen Glasfenster und ist vom liebevoll und informativ gestalteten Senfmuseum aus zu sehen: Die Senfmühle mit dem Mühlstein aus Lausitzer Granit, ein Nachbau einer Mühle aus dem 18. Jahrhundert, die weit mehr als eine Tonne wiegt.
Und dann ist Baumgartner in seinem Element. Er weiß alles über dieses kleine Korn, das schon für ein biblisches Gleichnis herangezogen wurde, welche Kraft in ihm steckt, warum der Senf seit Jahrtausenden als Heilmittel gilt, wie er hilft, nicht krank zu werden.
"Ein Löfferl Senf pro Tag reicht, er ist blutdrucksenkend und verhilft zu einer besseren Verdauung", weiß Baumgartner.
Seinen Senf lässt er übrigens in Lassee in Niederösterreich von einem Biobauern anbauen - auf acht Hektar, alle zwei Jahre wird geerntet. Fast auf römischem Boden, schmunzelt Baumgartner.
Römer brachten Senf und Wein
Warum das wichtig ist? Weil die Römer den Senf auf ihren Eroberungszügen mitgenommen haben. Um ihn vor Ort nahe der Feldlager und Verteidigungsstädten anzubauen, damit die Legionäre - in diesem Fall im Lager Carnuntum - auf dieses Heilmittel zurückgreifen können.
1.000 v. Chr.: aus dieser Zeit stammt der erste Nachweis von Senf. Das Wort "Sinapis" für Senf stammt aus dem indischen Sanskrit.
400 v. Chr.: In Griechenland wird die heilende Wirkung des Senfes mehrfach beschrieben
100 n. Chr.: Schriftsteller Columella schreibt das erste Rezept zur Senfzubereitung
800: Der Senf verbreitet sich aus Spanien lange vor Pfeffer als Würzmittel über Europa
1100: Ludwig IV, genannt "Der Dicke", reist nur mit persönlichem Senftopf
1300: Die französische Stadt Dijon erhält das Senfmonopol, um 1500 werden die Senfhersteller zu einer eigenen Zunft
1726: Der erste und damit älteste Senf Deutschlands entsteht: "ABB", heute "Löwensenf" aus Düsseldorf
1770: Der französische Senfhersteller "Maille" wird Hoflieferant das österreichischen und russischen Kaiserhauses.
1851: In Krems gründen die Brüder Hietzgern die erste Senfsiederei in Österreich, 1913 steigt Mautner Markhof in die Senfproduktion ein.
1948: Der Senf landet aufgrund von Glasmangel in der Weißblechtube (in Ö und der Schweiz)
Die Geschichte führt Baumgartner auch nach Frankreich, wo Ende des 15. Jahrhunderts in Dijon, der europäischen Senfhochburg, 83 Senfmüller am Werk waren.
In Österreich ist Baumgartner heute seines Wissens nach der einzige, der mit einer traditionellen Steinmühle im Kaltmahlverfahren arbeitet. Warum das so wichtig ist? "Bei 40 Grad verliert der Senf seine Wirkung", erläutert Baumgartner. Er mahlt seinen Senf drei Mal, immer wird er nur ein bisschen feiner, aber nie wird der Senf wärmer als 22 Grad.
David gegen die Industrieriesen als Goliath
Im Gegensatz zu den großen Industrien, erklärt der Spezialist: "Dort wird der Senf ganz fein gemahlen, dazu brauchst du eine hohe Rotation und der Senf wird heiß." Seine Regel: Je feiner der Senf, desto weniger Wirkstoffe hat er.
Laut Hildegard von Bingen hat der Senf folgende Eigenschaften:
Er sei antibakteriell, verdauungsfördernd, durchblutungsfördernd, pilzabtötend, harntreibend, krampflösend, schleimlösend, schmerzstillend, immunstimulierend und blutdrucksenkend.
Die Senfindustrie ist überhaupt ein Reizwort für den frankophilen Senfmüller. Was er in einem Jahr verbraucht, wird bei den großen Senfherstellern in Österreich in vier Tagen verarbeitet.
Auch beim Anbau ist ein Unterschied: Während in den großen Anbauländern in der Ukraine und Kanada bis zu zwei Tonnen Senf pro Hektar geerntet werden, sind es beim Biosenfaus Österreich nur 800 bis 900 Kilo.
"Und ich zahle meinem Bauern ein Vielfaches", ergänzt Baumgartner. Aber für ihn ist klar: "Ich kann nicht über Qualität reden, wenn ich nicht weiß, woher der Senf ist."
Der "Industriesenf" sei ideenlos und habe die Senftradition und die Senfgesundheit verloren gehen lassen, niemand kennt mehr Rezepte mit Senf. "Wir haben in Österreich seit 100 Jahren nur den gleichen Senf, das geht ja in die DNA der Menschen über", sagt Baumgartner.
Er lässt seinem Senf Zeit, vier Wochen reift er im Maischefass. "Da wir die Schärfe zum Aroma", schwärmt Baumgartner, der aktuell 27 unterschiedliche Sorten anbietet. Vom Waldhonig-Senf, seinem Erstlingswerk über den Weißwurst-Senf (zu dem Baumgartner eine eigene Sage geschrieben hat, in der seine Enkelkinder vorkommen) gibt es zu jedem Senf eine Geschichte.
Wie zum Hochzeitssenf für seine Tochter Anna - dafür hat er einen Apfel-Haselnuss-Senf kreiert. Weil der Tochter nach der Lehre der Kelten die Haselnuss als Baum zugeordnet ist, ihrem Mann der Apfelbaum. Dass Klaus Maria Brandauer der Taufpate der Tochter ist, ist da nur mehr ein Detail am Rande.
Most-Senf mit Cider-Weltmeister
Und neben Senf-Kaviar, Senfröster (Marille, Heidelbeere, Zwetschke-Holunder) arbeitet Baumgartner gerade an einem neuen Projekt: An einem Mostsenf, den er mit Cider-Weltmeister Schedlberger entwickelt. Der aber erst auf den Markt kommt, wenn er den Anforderungen des Senfmüllers Baumgartner und seiner Senferei genügt.
Die gehobene Gastronomie setzt auf den handgemachten Senf aus Bad Goisern. Konstantin Filippou, Lukas Nagl, Alain Weißgerber schwören auf die Produkte der Senferei zum Kochen. Und natürlich gibt es ihn beim Steeg Wirt in Bad Goisern. Und dort kocht man immerhin für das österreichische Fußball-Nationalteam.
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