"Babyboomer sind auf Rosen gebettet, die unter 40-Jährigen spüren die Dornen"

Erhard Prugger, Autor des Buches "Sozialfall Sozialstaat"
Erhard Prugger war Leiter der Sozial-, Gesundheits- und Rechtspolitik in der Wirtschaftskammer Oberösterreich. Der 64-jährige Eferdinger leitete auch den Landesstellen Ausschuss der AUVA. Vor eineinhalb Jahren hat er das Buch „Sozialfall Sozialstaat – Was jetzt zu tun ist“ im Trauner-Verlag her ausgebracht.
KURIER: Das Pensionssystem ist in Diskussion. Die Bundesregierung hat einige Maßnahmen zur Erhöhung des faktischen Pensionsalters beschlossen, lehnt aber wie auch die FPÖ eine generelle Erhöhung des Antrittsalters ab. Reichen die Maßnahmen aus?
Erhard Prugger: Ich habe in meinem Buch neun Sozialstaatslügen benannt, wovon die Erste ist, dass die Pensionen sicher sind. Ein Drittel der Pensionen zahlt mittlerweile der Staat, das sind im Jahr 30 Milliarden Euro. Durch die Pensionsbeiträge sind nur mehr zwei Drittel gesichert.
Man muss fairerweise dazusagen, dass hier die Beamtenpensionen inkludiert sind, für die der Staat keine Pensionsbeiträge leistet.
Das stimmt. Aber das System würde schon längst crashen, wenn man nur von den Beiträgen ausgeht. Ich begrüße die Schritte der Regierung wie die Korridorpension und die Teilpension. Sie werden aber nicht reichen. Denn jeder vierte Euro des Budgets muss für die Pensionen aufgewendet werden. 1,9 Millionen Babyboomer gehen bis 2035 in Pension. Dazu kommt, dass wir die dritthöchsten Pensionen in Europa haben.
Wie machen das andere Länder?
Die Skandinavier haben das gesetzliche Pensionsalter automatisch an die gestiegene Lebenserwartung angepasst. Das machen bereits über zehn EU-Staaten.
Sozialdemokraten leisten gegen die Erhöhung des Pensionsalters Widerstand mit dem Argument, dass Arbeiter nur acht Jahre lang Pension beziehen würden und diese Verlierer einer Erhöhung sein würden. Das wäre eine soziale Ungerechtigkeit.
Je höher die Qualifikation, umso höher die Lebenswartung. Wer in Armut lebt, verstirbt früher. Aber nicht in der Dimension, wie das da behauptet wird. 1970 sind die Menschen im Schnitt neun Jahre in Pension gewesen. Jetzt sind wir 22 Jahre in Pension, das System hat sich kaum geändert.
Das Pensionsalter in Deutschland liegt bei 67 Jahren, die Dänen erhöhen es bis 2040 auf 70 Jahre. Welche Höhe würden Sie vorschlagen?
Ich würde ein Pensionsalter zwischen 68 und 70 Jahren für gut halten. Ich plädiere auch für die automatische Angleichung an den Anstieg des Lebensalters. Wir von der Generation der Babyboomer sind auf Rosen gebettet, die unter 40-Jährigen werden die Dornen spüren.
Warum?
Die Optionen, die es gibt, sind länger arbeiten, weniger Pension und höhere Beiträge. Höhere Beiträge kann man de facto ausschließen, weil wir Lohnnebenkosten und Sozialversicherungsbeiträge haben, die zu den Höchsten in Europa zählen. Man müsste sie eigentlich senken.
Generationenvertrag heißt, dass man auch auf die Jungen schauen muss. Solidarität muss über Generationen hinweg sein.
Manche Junge befürchten sie werden einmal keine Pension mehr bekommen.
Sie haben ein gutes Gespür. Sie werden eine bekommen, die berühmte Volkspension. Sie wird aber mit der Pension, die wir bekommen, nicht vergleichbar sein. Hannes Androsch hat gesagt, die Pensionen sind dann sicher, wenn das Budget sie bezahlt. Das Budget ist aber Not leidend. Die Pensionshöhe wird ebenfalls ein Thema werden, nicht heute, nicht morgen, aber die Diskussion wird kommen. 2035 ist jeder Dritte ein Pensionist.
Was bedeutet das realpolitisch?
Diese Gruppe wird enorm stark sein. Kaum ein Politiker wird sich trauen, jene Pfähle einzuschlagen, die notwendig sind.
Müsste man heute den Jungen nicht empfehlen, mit Berufsbeginn gleich auch private Pensionsvorsorge zu betreiben?
Unser Pensionssystem ist nicht nachhaltig. Wir liegen auf Platz 21 im Vergleich der 27 EU-Staaten. Man müsste neben der staatlichen Pension die zweite und dritte Säule ausbauen. Also eine betriebliche Pension. Und als dritte Säule privates Ansparen. Man sollte das steuerlich fördern.
Es gibt derzeit eine staatlich geförderte, private Pensionsvorsorge, die wegen mangelnder Attraktivität nur wenige abschließen. Schon die damalige Finanzministerin Maria Fekter (2011–2013) hat eine Reform angekündigt, diese ist aber nie gekommen.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Man muss auch über die Sonderpensionsrechte diskutieren. Es geht hier teilweise sehr ungerecht zu. Ich plädiere für eine ASVG-Pension für alle.
Ist das eine Volkspension?
Es geht mir um gleiche Beiträge und gleiche Leistungen. Sonderrechte sind teilweise abgeschafft worden, es gehören aber alle Sonderpensionsrechte vom Tisch.
Als zweiten Sozialfall des Sozialstaats führen Sie in Ihrem Buch das Gesundheitssystem an. Die Finanzierungsgrenzen sind bereits überschritten. Die Besuche in den Spitalsambulanzen erreichen neue Rekordwerte, weil viele Hausarztstellen nicht besetzt sind. Gleichzeitig explodiert die Zahl der Wahlärzte. Dadurch vergrößert sich die Kluft zwischen den Patienten erster und zweiter Klasse.
Österreich lebt seit Jahren über seinen Verhältnissen. Die Finanzierungsprobleme sind offensichtlich. Unser Gesundheitssystem ist gut, wir können froh sein, dass wir es haben. Es ist aber ein teures System. Wir sind bei den Kosten des Gesundheitssystems innerhalb der EU an vierter Stelle. Wir sind gut und teuer. Wir sind üppigst ausgestattet, auch wenn ich weiß, dass in manchen Regionen der Praktiker fehlt. Wir haben die drittmeisten Ärzte.
Das Problem ist, dass wir in manchen Regionen und Fächern zu wenige haben. Wir haben in Europa die zweitmeisten Krankenhausbetten und die viertmeisten Intensivbetten. 25 Prozent der Österreicher sind einmal im Jahr im Krankenhaus. Damit liegen wir in Europa an erster Stelle. Wir haben eine Krankenhaus-Fixierung, die aber sehr teuer ist.
Es gibt zwei „Bomben“. Die eine ist die Demografie. Die Babyboomer sind jetzt noch einigermaßen gesund, sie werden aber künftig öfter den Arzt brauchen. Bis hin zur Pflege, die in Österreich ein ungedeckter Scheck ist und damit die nächste finanzielle „Bombe“ ist.
Das Krankenhaus ist die teuerste Lösung.
Der Praktiker muss eine Art Gatekeeper (Zugangskontrollor) werden. Er sollte entscheiden, wo der Patient am besten aufgehoben ist.
Aber dann muss der Praktiker zur Verfügung stehen.
Richtig. Dass sich der Patient aussuchen kann, gehe ich zum Praktiker, zum Facharzt, in die Ambulanz oder lege ich mich ins Spital, ist nicht nur ein medizinischer, sondern auch ein finanzieller Wahnsinn. Der Chef eines Ordensklinikums sagte mir, zwei von drei Patienten müssten nicht im Spital sein. Der Ausbau von Primärversorgungszentren ist ein guter Weg.
Andreas Huss, Obmann der schwer defizitären Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) , sagt, um auf ein ähnliches Niveau der Kassenversorgung wie in Deutschland zu kommen, müsste der Krankenversicherungsbeitrag von 7,65 auf 9,5 Prozent des Monatsbruttoeinkommens angehoben werden. Das wäre eine Erhöhung um rund 25 Prozent.
Das ist die bekannte Dauerschleife. Wenn etwas nicht passt, dann schreit man nach mehr Geld. Wenn mein Kind mit dem Taschengeld nicht auskommt, frage ich es, wofür es das Geld verwendet und rede mit ihm darüber, wie es das besser einsetzen kann. Das will ich jenen sagen, die alles mit Geld lösen wollen. Im österreichischen Sozialstaat und im Gesundheitssystem ist genug Geld. Man muss es richtig verwenden.
Wie zum Beispiel?
Wir sind bei der Digitalisierung im Gesundheitssystem hinten nach. Ich würde die Bürger zu ELGA (elektronische Gesundheitsakte) verpflichten, die jeder Arzt einsehen kann. Natürlich muss hier der Datenschutz funktionieren. Das würde auch im Pharma-Bereich helfen. In Österreich werden die Hälfte der Medikamente weggeworfen. Das ist Vollkaskomentalität pur.
Von Experten wird die Zwei-Hand-Finanzierung des Gesundheitssystems kritisiert. Auf der einen Seite sind die Länder und Gemeinden wesentlich für die Spitalsabgänge verantwortlich, auf der anderen Seite die Gesundheitskassen für die Ärzte.
Ich bin für eine Finanzierung aus einer Hand.
Wo sollen dann die Gesundheitskompetenzen liegen?
Ich würde sie der Gesundheitskasse geben, wo die Beiträge verwaltet werden. Ich glaube, dass die Reform der Sozialversicherungen einiges an Licht gebracht hat, dass zum Beispiel die Leistungen bundesweit angeglichen worden sind. Dass zum Beispiel die Rollstuhlförderung in Oberösterreich dieselbe ist wie in Vorarlberg. Klassischerweise nach oben.
Positiv ist auch, dass es eine Parität zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Entscheidungsstruktur gibt. Es wird aber nichts besser oder billiger, weil es in Wien gemacht wird.
Die Zentralisierung war falsch?
In gewissen Bereichen war sie richtig, zum Beispiel bei den einheitlichen Levels, aber im Operativen weiß man vor Ort mehr. Wir kennen unsere Partner, wir kennen unsere Versicherten. Eine Rückabwicklung der Gesundheitskasse wird es nicht geben, aber es sollte zu einer stärkeren Regionalisierung kommen.
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