Missbrauchsvorwürfe: "Kinder ermutigen, über Gefühle zu sprechen"
„In dieser Dimension ist mir aus den letzten 25 Jahren nicht einmal ansatzweise ein ähnlicher Fall bekannt“, sagt Gerald Bachinger, Sprecher der ARGE Patientenanwälte. Der Fall des oberösterreichischen Arztes, der 95 Buben sexuell missbraucht haben soll, sorgt für Bestürzung. Am Dienstag wurde das gesamte Ausmaß bekannt. Seit Jänner sitzt der Mediziner aus dem Salzkammergut in Untersuchungshaft.
„Die Zahl der Fälle ist während den Ermittlungen kontinuierlich angestiegen“, berichtet Silke Enzlmüller, Sprecherin der Staatsanwaltschaft Wels. Über die Patientenkarteien seien immer wieder neue Opfer bekannt geworden. Es wäre auch nicht auszuschließen, dass noch weitere dazukommen. „Ich gehe aber nicht davon aus, dass es noch viele sein werden“, erklärt Enzlmüller.
Den Fall ins Rollen gebracht hatte ein Opfer, das seinen Eltern von den Vorkommnissen erzählte. „Der notwendige Vertrauensvorschuss wurde hier offenbar beinhart missbraucht“, sagt Bachinger zum KURIER. Dieser Vertrauensvorschuss sei besonders im niedergelassenen Bereich, in dem der Fall passierte, sehr hoch. Bei Behandlungen im Intimbereich ist die Verantwortung des Mediziners naturgemäß noch einmal höher.
Ernstnehmen von Kindern wichtig
„Vertrauen in den Behandler ist ganz wichtig für den Behandlungserfolg. Blindes Vertrauen ist aber der falsche Ansatz“, erklärt Bachinger. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Eltern bei diesem Ausmaß überhaupt keine Hinweise bekommen haben. Das soll aber kein Schuldvorwurf an die Eltern sein“, sagt der Patientenanwalt.
Die Kinder ernst zu nehmen, sei deshalb besonders wichtig, sagt auch Michael Wall, oö. Patientenanwalt. „Dass die Bezugspersonen der Kinder besonders sensibilisiert sind, was Signale für Missbrauch im Leben eines Kindes sind, etwa Schlafstörungen, Probleme in der Schule oder körperliche Auffälligkeiten, ist sehr wichtig“, erklärt Wall.
Wichtig sei auch, Kindern beizubringen, über ihre Gefühle zu sprechen, sagte Astrid Egger von der oö. Kinder- und Jugendanwaltschaft. „Das Wichtigste ist, dass man sie ermutigt, auf ihre Gefühle zu horchen und zu erzählen, wenn etwas vorgefallen ist, wobei sie sich schlecht gefühlt haben“, erklärt Egger.
Gesellschaftlicher Aufbruch hilft
Mit Kontrollen sei solchen Fällen kaum beizukommen, sind sich Bachinger und Peter Niedermoser, Präsident der oö. Ärztekammer, einig. „Es ist schrecklich, dass ein Arzt das getan hat. Aber es ist ein Verbrechen, das hier passiert ist und verbrecherische Taten kann man nie verhindern“, sagt Niedermoser. Auch Bachinger meint: „Es ist schwierig, solche Dinge mit Kontrollmaßnahmen in den Griff zu bekommen.“
Was helfen könne, sind gesellschaftliche Entwicklungen, glaubt Bachinger. Er ortet dabei einen „gewissen Aufbruch“ in der jüngeren Vergangenheit. „Über Tabuthemen zu reden, ist heute durchaus einfacher, als es vielleicht vor zehn Jahren noch war“, sagt der Patientenanwalt.
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