Sonja und Claudia warten schon im Tor vor Marienstraße 11 in Linz. Sie schreiben für die „Kupfermuckn“, der einzigen Straßenzeitung, die noch von einer Betroffenen-Redaktion erstellt wird. „15 Betroffene arbeiten mit, drei Viertel der Zeitung kommt von ihnen“, weiß Sozialarbeiter Daniel Egger.
Mit den Geschichten, die sie liefern und dem Zeitungsverkauf verdienen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Obdachlosen-Umfeld ein kleines Zubrot. Und können sich dann die Nächte in den Betreuungseinrichtungen leisten.
4,50 Euro kostete etwa eine Nacht in der Notschlafstelle des Sozialvereins B37. „Nicht gerade billig für jemanden, der nichts hat“, wissen Betroffene. Dafür gibt es eine Meldeadresse und die Möglichkeit, sich zu waschen, zu versorgen und zu schlafen.
Erste Anlaufstelle
Die Notschlafstelle ist die erste Station der Führungen, die Sonja und Claudia auf den Spuren der Obdachlosigkeit in Linz anbieten – selbst einst Zufluchtsort der beiden Guides. 35 Mal pro Jahr gehen sie mit Schülerinnen, Studenten, Firmgruppen durch die Stadt. Aber auch Unternehmen buchen diese „Gratwanderungen“.
Sonja und Claudia sind nicht auf den Mund gefallen. Charmant und unterhaltsam gestalten sie die Reise durch dieses Linz, voll mit menschlichen Schicksalen. „Obdachlosigkeit kann jeden treffen“, sagt Sonja eingangs und erzählt vom früheren LASK-Meisterkicker, der völlig verarmt auf der Straße gelandet ist.
Über ihr eigenes Schicksal hat Sonja offen zu reden gelernt, sie teilt es unverblümt: „Mit 19 hat mich meine Mutter rausgeworfen. Da hatte ich zwei Kinder, ein halbes Jahr und eineinhalb Jahre alt.“ Das war 1998.
Die heute 44-jährige Linzerin landet damals für ein ganzes Jahr auf der Straße, in der Notschlafstelle lernt sie später ihren 28 Jahre älteren Mann kennen. Es folgen schwere Zeiten: Erst ein Versuch in einer kleinen Wohnung, Notschlafstellen, Obdachlosenunterkünfte, Hausverbote in Einrichtungen.
Schicksalsschläge
In der Zeit kann sie nur langsam Kontakt zu ihren Kindern aufbauen, bis ihr Vater stirbt – ein Rückschlag. 2007 stirbt ihr Mann, ein Jahr später bekommt sie Krebs, 2013 nimmt sich ihr Sohn mit 16 das Leben. Ein Leben voller Schicksalsschläge.
Ihren jetzigen Partner hat sie bei einem „Klientenurlaub“ wiedergetroffen. „Er ist auch mal betrunken irrtümlich in unserem Zimmer in der Notschlafstelle gelandet“, erzählt sie und bringt uns trotz des ernsten Themas zum Lachen.
Seit fünf Jahren lebt sie nun „ohne B37“, wie sie schmunzelnd, aber stolz erklärt. Die vielen Anlaufstellen in Linz hätten auch ihr geholfen.
Hilfe für andere
Sonja kennt die Sorgen und Nöte – und Zwänge – von obdachlosen Menschen nicht nur aus der eigenen Betroffenheit. Den eigenen Problemen zum Trotz engagiert sie sich für die Menschen auf der Straße, war lange Betroffenen-Vertreterin wohnungsloser Menschen beim Land Oberösterreich.
Der Obdachlosenratgeber, den es seit einigen Jahren gibt, ist auf ihre Initiative zurückzuführen. „Vorher überlegt sich ja niemand, wo er hingehen soll, wenn er oder sie obdachlos wird. Damit rechnet ja keiner“, sagt sie.
Um dieses Wissen über die Anlaufstellen in Linz zu erweitern, gibt es auch diese „Gratwanderung“. 18 Adressen sind im Ratgeber angeführt, einige werden auf der Tour durch Linz besucht.
Eigene Geschichte
Claudia, unser zweiter Guide, befindet sich während der Führung immer wieder an Orten, die sie aus eigner Erfahrung kennt. Ihr Weg in die Obdachlosigkeit: Nach Aufenthalten in Kinderheimen kam sie in eine Borderline-Therapie, da wurde ihre Mutter delogiert, bei der sie in der Zeit eigentlich wieder gewohnt hat.
Die heute 43-Jährige (Ende September wird sie 44) kommt ins Psychosoziale Wohnen des Vereins B37, dort bringt sie im Jahr 2003 ihr erstes Kind zur Welt. Der Vater ist gleich wieder weg, das Kind kommt zu Pflegeeltern, später bekommt Claudia das Sorgerecht zurück, ihr Kind absolviert gerade eine Lehre beim Spar.
Claudia selbst beginnt zu trinken, gleitet ab, wird zur Alkoholikerin. Und schafft 2006 erfolgreich den Entzug. 2008 lernt sie einen Mann kennen, von dem sie sich erst im Frühjahr dieses Jahres trennt.
2010 kommen Zwillinge, aufgrund ihrer Situation werden diese gemeinsam nach der Geburt Pflegeeltern überantwortet: „Wir sehen uns einmal im Monat für zwei Stunden, da ist alles gut geregelt.“
Corona hat ihrem Leben wieder einen Dämpfer gegeben, erzählt sie: „Ich bin mit dem eingesperrt sein nicht zurechtgekommen.“ Jetzt bezieht sie eine eigene, kleine Wohnung: 45 Quadratmeter, 415 Euro inklusive Strom und Heizung. Bei solchen Schritten hilft in Linz das Projekt „Zu Hause ankommen“.
„Werden oft beschimpft“
Obdachlosigkeit polarisiert auch in Linz. „Obdachlose Menschen werden schnell einmal beschimpft“, weiß Sonja aus eigener Erfahrung. Was ihr erspart geblieben ist, sind tätliche Angriffe oder sexuelle Übergriffe: „Als ich das in Wien (eine Reihe tödlicher Attacken auf Obdachlose, Anm.) mitbekommen habe, hat mich das gleich einmal schockiert, aber so arg ist es in Linz nicht.“
Laut aktuellen Zählungen, die zwei Mal pro Jahr durchgeführt werden, leben rund 50-80 Menschen tatsächlich auf den Linzer Straßen. In den diversen Einrichtungen sind bis zu 500 Personen untergebracht.
Es gäbe zwar theoretisch für alle einen Platz, manche haben wegen diverser Verstöße Hausverbote, „manche halten es wirklich nicht aus, mit drei anderen in vier Wänden zu schlafen“, plaudert Sonja aus dem Nähkästchen: „Einer schnarcht, einer stinkt, einer fladert. Wo sollst du dann noch hingehen, wenn du am unteren Ende bist?“ Da bleibt nur die Straße.
Ausbau nötig
Ihre Forderung: „Linz braucht eine zweite Notschlafstelle von einem anderen Träger, dass man dorthin ausweichen könnte.“ Und diese müsste auch in Linz mit "Non-Compliance-Zimmern ausgestattet sein".
Das gibt es etwa in Wels, Steyr oder Vöcklabruck und ist Personen vorbehalten, die nicht in der Lage sind, sich an gemeinschaftliche Regeln zu halten. Wichtig sei auch, dass den Menschen Platz im öffentlichen Raum zugestanden werde. Am liebsten in Parks mit einem Supermarkt, Wasserspender und einer öffentlichen WC-Anlage.
Einen Überblick über die vielen Angebote in Linz wie die Arge für Obdachlose (arge-obdachlose.at), die Jugendnotschlafstelle, Obdachlosenstreetwork, das Caritas-Tageszentrum Frida (nur für Frauen) und viele mehr findet man unter www.sozialplattform.at.
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