Forschung über Digitalisierung der österreichischen Gerichte

Forschung über Digitalisierung der österreichischen Gerichte
Guter Stoff von Lyane Sautner, als Professorin an der Johannes Kepler Universität Linz tätig.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten als Zeug*in vor Gericht aussagen. Am Verhandlungstag würden Sie zum Gericht fahren, durch die Sicherheitskontrolle gehen und dann womöglich längere Zeit vor dem Gerichtssaal auf Ihren Einsatz warten.

Während Ihrer Aussage würden Sie in der Mitte des Raumes an einem kleinen Tisch in einem ehrfurchtgebietenden holzvertäfelten Gerichtssaal sitzen und von fremden Personen befragt werden.

 

Hinter Ihnen säßen Zuhörer*innen im Publikumsbereich. Kein Wunder, dass viele Zeug*innen, Kläger*innen, Beklagte oder Angeklagte bei Gericht Unbehagen und Nervosität beschleichen.

Stellen Sie sich nun vor, dass Sie diesen Termin von zu Hause aus erledigen könnten – in Ihrer gewohnten Umgebung, ohne Anreise oder Sicherheitsschleuse.

Befragung via Videokonferenz

Sie müssten nur Ihren Computer einschalten, Ihre Kamera positionieren und sich in ein Videokonferenzprogramm einloggen. Alle anderen Verfahrensteilnehmer*innen würden sodann auf Ihrem Bildschirm erscheinen, und die Befragung zu Ihrer Person und zum Sachverhalt könnte beginnen.

Videoverhandlungen können also Zeit und Geld sparen sowie das Nervenkostüm schonen und auch die Verbreitung ansteckender Krankheiten wie Covid-19 verhindern.

So ohne Weiteres ist dieses Vorgehen allerdings (nach Auslaufen verschiedener COVID-19-Sondernormen) in österreichischen Straf- und Zivilverfahren nicht gesetzlich gedeckt.

Digitale Welt

Viele Östereicher*innen erledigen ihre beruflichen Aufgaben inzwischen in der digitalen Welt: Besprechungen werden über Videokonferenzplattformen (wie Zoom oder Microsoft Teams) abgehalten, selbst die gemeinsame Mittagspause wird mitunter in den virtuellen Raum verlegt.

Warum stoppt die digitale Revolution also vor österreichischen Gerichten?

Entsprechend dem Öffentlichkeits- und dem Unmittelbarkeitsgrundsatz haben gerichtliche Verfahren grundsätzlich in präsenter Form stattzufinden.

Eindruck könnte verloren gehen

Dem entspricht die Befürchtung von Rechtswissenschaftler*innen und Praktiker*innen, dass wichtige Informationen, die für die Beweiswürdigung und die Glaubwürdigkeitsbeurteilung relevant sind, in digitalen Befragungen oder Verhandlungen verloren gehen könnten.

Das Gericht muss sich einen möglichst umfassenden und lebendigen Eindruck verschaffen – eine Videoübertragung könnte die Basis dafür stark reduzieren (zum Beispiel ist auf einem Video nur ein Teil des Oberkörpers zu sehen, was die Wahrnehmung der Körpersprache einschränkt).

Nicht wissenschaftlich belegt

Diese Befürchtungen basieren allerdings nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern vielmehr auf persönlicher Erfahrung.

Ob die Beweiswürdigung durch das Online-Setting tatsächlich negativ beeinflusst wird, muss vielmehr erst erforscht werden. Das Forschungsprojekt „Verhandeln mit Videotechnologie“ will diese Forschungslücke schließen.

Untersucht wird, ob und inwiefern bestimmte technische Voraussetzungen oder Einstellungen die Wahrnehmungen betreffend der Glaubwürdigkeit einer Person verändern.

Kann eine Verhandlung noch fair sein, wenn Zeug*in A aufgrund ihrer oder seiner guten technischen Ausstattung sehr gut zu erkennen und zu verstehen ist, aber das Video von Zeug*in B während ihrer oder seiner Aussage wiederholt einfriert?

"Hybride" Gerichtverhandlungen

Noch komplexer gestalten sich „hybride“ Gerichtsverhandlungen, wenn zum Beispiel nur der*die Kläger*in mit Anwält*innen per Videokonferenztechnologie teilnimmt, alle anderen Personen jedoch vor Ort im Gerichtssaal sitzen.

Wie kann sichergestellt werden, dass dem*der Kläger*in dadurch keine Nachteile entstehen (zum Beispiel, weil er*sie nicht den gesamten Raum einsehen kann oder das Mikrofon nur auf Anfrage eingeschaltet wird)?

Forschungs-Projekt läuft

Diese und weitere Fragen aus den Bereichen der Prozessrechtsdogmatik und der Rechtspsychologie erforscht ein interdisziplinäres 10-köpfiges Forscher*innenteam an der Johannes Kepler Universität Linz (Professor*innen Bergthaler, Geroldinger, Leitl-Staudinger, Riedler, Sautner; Assistent*innen Sackl, Marhali und Schmittat) in Kooperation mit der Universität Innsbruck (Professor Wimmer) und der Hochschule des Bundes in Deutschland (Professorin Pfundmair).

Im Rahmen des Projekts „Verhandeln mit Videotechnologie“ wird nun experimentell erforscht, ob und wie Videokonferenztechnologie die Beweiswürdigung verändert, um empirisch fundierte Empfehlungen und Richtlinien für die österreichische Justiz zu erarbeiten.

 

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