Chris Müller: „Richtige Fragen unterscheiden uns von der KI“
Das Büro ist eine Wunderkammer, ein Kabinett der Kuriositäten, mit einem Auge fürs Detail und der Faszination für Skurriles eingerichtet.
Auch wenn er nicht mehr Direktor der Linzer Tabakfabrik ist, schaltet und waltet, denkt und philosophiert, kreiert und visualisiert Chris Müller weiter vor Ort.
Im KURIER-Gespräch erzählt der 50-Jährige von aktuellen Projekten, Entwicklungspotenzialen in Linz und seinem Grabstein im Garten.
KURIER: Seit knapp zwei Monaten sind Sie nicht mehr Direktor der Tabakfabrik. War es die richtige Entscheidung?
Chris Müller: Ja mit einem Rufzeichen! Es ist nicht einfach, wenn man elf Jahre lang jeden Tag zwölf Stunden hier und mit voller Leidenschaft dabei ist, aber irgendwann innerlich merkt, da gibt es eine Ablösung. Aber es gibt keinen Tag, an dem ich diese Entscheidung bereue. Ich bin nur im Vorwärtsgang. Wenn etwas vorbei ist, ist es vorbei.
Woran arbeiten Sie gerade? Was treibt Sie um?
Meine Leidenschaft sind Orte der Innovation. Ich habe die Chance erhalten, bei vielen Firmen und Projekten mitzuarbeiten, in beratender, begleitender Funktion. Ich habe soeben einen Vertrag mit der FH Kärnten unterschrieben. Da gibt es die Mission, einen Bildungshub über Kärnten zu entwickeln. Die großen Fragen dabei: Wie sieht ein Bildungsort der Zukunft aus? Wie schafft man es, dass einerseits die Menschen in Kärnten bleiben, andererseits Internationalität angezogen wird? Außerdem begleite ich die Re-Attraktivierung des Semmering-Gebiets.
Wie ist Ihr Ansatz in diesen Prozessen?
Überall, wo etwas neu erfunden wird oder dort, wo es Verbesserungspotenzial gibt, da komme ich hin. Das Unternehmen CMb Industries (Chris Müller better Industries, Anm.) wurde vor sechs Jahren gegründet und mit der Bau- und Immobilienfirma Delta verschmolzen. Dadurch können wir nicht nur Dinge andenken, sondern diese auch umsetzen. Insgesamt arbeiten 400 Menschen an mehreren, auch internationalen Standorten.
Was ist das Atmos-Projekt, das Sie ins Leben gerufen haben?
Da geht es darum, einen Ort mit bestimmter Ökologie zu entwickeln, dort soll man regenerativ und präventiv hingehen und einen fantastischen Urlaub verbringen können. Menschen treffen, die positiv in die Zukunft gehen. Der Schwerpunkt liegt auf Luft und Atmung. Aktuell ist es eine Projekt-Idee. Für dieses Resort, in das wir all unser Wissen reinpacken werden, suchen wir gerade einen Ort. Wir sehen mit Satelliten oben drauf, wo die Luft besonders gut ist, und erkennen so mögliche Standorte. Meine Tochter hat Mukoviszidose, das war auch der Ursprungsgedanke: Einen Ort zur Linderung zu schaffen. Atmos wird da gebaut werden, wo es gebraucht wird. Wir sollten verstehen, dass Luft eine entscheidende Ressource ist.
Sie arbeiten allgemein viel mit Immobilien.
Insgesamt interessiert mich die gesellschaftliche Komponente: Wohnen und Immobilien sind wichtig. Gesellschaftlicher Wandel berührt immer irgendwann das persönliche Leben, die Immobilie, Grund und Boden. Schauen wir auf die Landstraßen der Erde: Durch unser Online-Kaufverhalten werden die Geschäfte leer. Aber es wird auch grüner, man kann wieder in die Innenstädte ziehen. Städte werden unterscheidbarer.
Wo sehen Sie in Linz brachliegendes Potenzial in der Stadtentwicklung?
Alles, was ich sage, ist im Wissen, dass es kompliziert ist, aber wünschenswert und irgendwann machbar. Die Stadt sollte mehr ans Wasser rücken, von der Badebucht bis hin zu anderen Möglichkeiten. Es wird sich auch beim Verkehr allerhand tun, hoffentlich in eine Richtung, dass man besser mit dem Radfahren kann, es wirklich Rad-Highways gibt. Die Qualität sollte immer nach oben nivelliert werden, sprich es sollen mehr herausragende Gebäude entstehen, nicht welche, die guter Durchschnitt sind. Bei der Kunst im öffentlichen Raum gibt es Luft nach oben.
Was sind die großen gesellschaftlichen Themen, die Sie beschäftigen?
Gleich hinter der Gegenwart ist die KI schon da. Die Antwort der Menschheit wird die Frage sein. Die Fragen, die wir stellen, werden uns von der KI unterscheiden. Philosophie wird wichtiger werden. Lernen wir in der Schule, die richtigen Fragen zu stellen?
Wir sind ausgebildet worden, um die industrielle Wirtschaft bedienen zu können. Deswegen fordere ich eine Quote für Philosophinnen und Philosophen in großen Unternehmen. Das soll ein ganz normaler Beruf werden, das wird bitter nötig sein.
Sie sprechen oft vom digitalen Humanismus: Was ist das?
Eine Bewegung, die fordert, dass all das, was erfunden wird, im technischen und digitalen Bereich den Menschen als Subjekt und nicht als Objekt behandeln soll. Wir müssen diese Werkzeuge beherrschen können. Wir müssen diese gesellschaftlichen Entwicklungen mitbegleiten. Es geht darum, alle Erfindungen menschenzentriert anzuwenden. Daten sollten nicht privatisiert werden.
Der digitale Humanismus nimmt das Gefühl auf, dass die Menschheit beunruhigt ist, und begleitet es. In allem ist mir aber wichtig, optimistisch zu bleiben und zu sagen: Wir schaffen das alle gemeinsam.
Teile des Tabakfabrik-Areals sind gerade eine Großbaustelle: Wohin kann, soll, sich das Ganze entwickeln?
Ich hoffe, dass der Höhepunkt erst kommt. Jetzt ist sie voll. 2025 werden 5.000 Menschen hier arbeiten und zum Teil auch da wohnen. Die große Kraft ist, dass Menschen hier einen Ort haben, wo sie frei denken und Technologie nutzen können, die sie nicht zu Hause haben. Und hier kommen Menschen zusammen, die offen und tolerant sind und ungewöhnliche Ideen schätzen.
Innovation kann man nämlich nicht verwalten. Eigentlich sollte die Stadt zur Tabakfabrik werden. Es sollen ja viele solche Orte entstehen, Orte der Philosophie, der Kunst, der Innovation. Diese Orte der Innovation werden sich verstärkt vernetzen. Und dann geht es immer um Kollaborationen: Wie werden wir zusammen leben und arbeiten?
Wie werden wir denn zusammen leben und arbeiten?
Wir müssen uns fragen, wo bauen wir neue Infrastrukturen? Wie können wir Orte zusammenbauen? Wir sollten uns nicht nur überlegen, Bestehendes zu erweitern, sondern neue Städte und Orte zu erschaffen.
Wo sollen die entstehen?
Zeitlich gesehen sind Höhenlagen wichtig. Baufirmen beraten wir im Sinne einer Schattenlage. Früher hat man Sonnenlagen gesucht, das ist jetzt nicht mehr passend. Höhenlagen mit Schatten sind gefragt. Da gibt es viele passende Plätze in Österreich, wo man sagen könnte, da bauen wir eine neue Stadt hin. Das ist deswegen so attraktiv, weil alles neu gedacht werden kann und man zum Beispiel Probleme des Verkehrs nicht mitschleppen muss. Und da ist noch etwas, das uns guttäte, nämlich: Wie soll es in 300 Jahren ausschauen? Nicht: Wie kann das in fünf Jahren fertig sein? Dieses langfristige Denken hat etwas mit Generationengerechtigkeit zu tun. Wir sollten vielleicht wieder Gebäude bauen, die nicht in unserer Lebenszeit fertig werden.
Was sind da die Schwierigkeiten?
Fehler passieren nicht im Technischen, sondern im Denken: Wie soll man Probleme erkennen und Lösungen erarbeiten, wenn man gar keine Zeit mehr hat? Alles wird noch dynamisierter, die KI kommt dazu. Der Algorithmus hält uns im Hamsterrad. Wie dieser Algorithmus funktioniert, sollten wir wissen. Dann können wir gesellschaftlich und politisch entscheiden, wie wir damit umgehen wollen.
Wie ist es um die Linzer Kulturszene bestellt? Es tut sich ja allerhand, etwa mit dem Lido Sounds dieses Wochenende.
Man darf sich fragen: Ist das Event Unterhaltung oder reden wir, davon Künstlerinnen und Künstler auszubilden? Das ist in keiner Stadt so, aber Linz hätte da einen guten Sockel. Wir sind Technologie-affin und -gläubig, deswegen müssen wir mehr Menschen ausbilden, die uns kritische Fragen stellen.
Sie tragen oft markante Anzüge, dazu gibt es jetzt ein eigenes Modelabel.
Genau, Urban Miner ist eine Fashionbrand, die aus meiner Liebe zu Anzügen entstanden ist. Ich stamme ja aus einer Bergbaufamilie und schätze Werte wie Solidarität und Zusammenhalt sehr, daher auch der Name. Aktuell werden nur Modelle auf Anfrage produziert, einfach, weil ich großen Spaß an der Sache habe. Manchmal muss man die Dinge tun, statt nur darüber nachzudenken. Als kleinen Hinweis darauf habe ich mir gebraucht einen 80 Jahre alten Grabstein gekauft, der jetzt in meinem Garten steht. Über die Inschrift denke ich noch nach.
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