Protokoll einer Abschiebung: "Ich werde nicht überleben"

Protokoll einer Abschiebung: "Ich werde nicht überleben"
Der KURIER hat den Weg eines 24-Jährigen nachvollzogen, der abgeschoben wurde und nun knapp einem Bombenanschlag in Kabul entgangen ist.

August 2015: Die Lage hatte sich zugespitzt. Schon mehrmals wurde er von den Taliban bedroht und gefangen genommen. Die letzte Drohung war unmissverständlich. Nasrullah (Name geändert), Polizist in Herat, Afghanistan, tritt die Flucht an. Der 1994 geborene Hazara – eine Minderheit, die diskriminiert wird – gelangt über Pakistan in den Iran. Von dort geht es weiter in die Türkei. 40 Menschen werden an der Grenze erschossen, erzählt er; Nasrullah hat Glück. Mit dem Boot schafft er es nach Griechenland, von wo aus er über Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien schließlich Österreich erreicht.

Protokoll einer Abschiebung: "Ich werde nicht überleben"

10. Dezember 2015: Gablitz in Niederösterreich ist auf die Ankunft der Flüchtlinge nicht vorbereitet. Spätabends erreicht ein Bus mit Asylwerbern aus Afghanistan und Syrien den Ort. Auch Nasrullah steigt aus dem Bus aus. Nach Zwischenstationen in Graz, Traiskirchen, Baden und einer Nacht in Amstetten kommt er in der 5000-Einwohner-Gemeinde an. „Er stach heraus, weil er sehr gut Englisch konnte“, sagt Christl , später seine engste Vertraute in Österreich. Nach dem ersten Chaos und der Organisation von Kleidung und Schlafplätzen werden Deutschkurse angeboten. Nasrullah nimmt von Anfang an daran teil: Fünf Tage pro Woche, täglich drei Stunden. „Er war immer pünktlich da, hat nie gefehlt“, erzählt seine Deutschlehrerin Eva Novotny. Zusätzlich verbessert er seine Englischkenntnisse mit einer Nachhilfelehrerin.

Jänner 2016: Schnell stellt sich heraus, dass Nasrullah ein „sehr reifer, besonnener und ruhiger Mann ist“, beschreibt Astrid Wessely vom Verein „Gablitz hilft“. „Viele sind in eine Schockstarre oder Depression verfallen, bei ihm war das nicht der Fall. Er hat stets als Vermittler fungiert, war sehr aktiv, überall dabei und sehr engagiert.“

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1. Februar 2016: Über den Umzug in eine private Wohnung, die die Freiwilligenhelfer anmieten, freut sich Nasrullah sehr. Fortan lebt er mit sechs Asylwerbern zwischen 18 und 22 Jahren zusammen.

Ab 6. Juni 2016: Um ein wenig Geld zu verdienen – mehr als 20 Stunden pro Monat sind gesetzlich nicht möglich – beginnt er, bei der Gemeinde zu arbeiten. Jeden Montag säubert er die Straße, jätet Unkraut oder sammelt Müll auf.

14. November 2016: Die Vorbereitungen auf das Interview beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) laufen auf Hochtouren. Im Sommer hat Nasrullah die Sprachzertifikate A1 und A2 abgeschlossen. Die Ärztin Karin Tschare-Fehr bedankt sich in einem Schreiben für seine Übersetzungstätigkeiten. Die Freiwilligen sammeln Unterschriften, die bezeugen, dass er bereits ein fester Teil der Gemeinschaft des Ortes ist. Nasrullah ist nervös.

16. November 2016: Erstes Interview beim BFA in Wien.

1. Dezember 2016: Nun heißt es, auf den ersten Bescheid warten. Nasrullah bleibt optimistisch und beginnt mit Christl Seibt für die Aufnahmeprüfung des Pflichtschulabschlusskurses an der Volkshochschule (VHS) zu lernen. Der Kontakt zwischen den beiden wird enger. Nasrullah wird zu einem Mitglied der Familie. „Manchmal war er ganze Tage bei uns“, sagt Seibt, die schon in Pension ist.

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6. März 2017: Trotz aller Bemühungen ist der erste Bescheid negativ. „Das war ein großer Einschnitt. Er war tagelang traurig, konnte sich in den Deutschstunden nicht konzentrieren. Wir haben ihm Hoffnung gemacht, gemeint, dass es nur der erste Bescheid ist. Außerdem haben wir Unterstützung bei Asyl in Not geholt“, sagt Novotny. Die Organisation, die politisch verfolgte Ausländer unterstützt, reicht eine Woche später Beschwerde ein.

20. November 2017: Während dem Bangen um den Asylstatus, gibt es dennoch auch Grund zur Freude: Nasrullah darf mit dem Pflichtschulabschlusskurs beginnen. Auch im Sommer war der ehemalige Polizist fleißig: Er schließt den B1-Sprachkurs ab, macht einen Erste-Hilfe-Kurs und absolviert den Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds.

24. November 2017: Die zweite Verhandlung findet am Bundesverwaltungsgericht statt. „Er hatte große Angst, weil ihm jemand gesagt hat, dass er bei einem der strengsten Richter ist“, sagt Deutschlehrerin Eva Novotny.

7. Jänner 2018: Obwohl die Wartezeit dieses Mal kürzer ist, gibt es dennoch keinen Grund zur Freude. „Die Begründung kam via eMail“, sagt Wessely. „In unserem Asylrechtssystem sind seine Fluchtgründe keine Asylgründe“, fährt sie fort. „Der zweite Bescheid bedeutete den totalen Zusammenbruch. Wir haben gehofft, dass die Integrationsmaßnahmen helfen werden. Aber das hatte alles keine Bedeutung“, ergänzt Novotny.

9. Februar 2018: Seibt beauftragt einen Anwalt, der Beschwerde einreicht und Verfahrenshilfe beantragt. Der Verfassungsgerichtshof lehnt dies ab, der Verwaltungsgerichtshof bewilligt es. Nasrullah und seine Freunde und Helfer bleiben hoffnungsvoll. „Wir haben ihm geraten, nicht unterzutauchen, weil wir überzeugt waren, dass alles gut geht“, sagt Wessely.

22. März 2018: Das Leben geht in seiner Alltäglichkeit weiter. Der negative Bescheid schwebt wie ein Damoklesschwert darüber. Nasrullah schließt das erste Kompetenzfeld des VHS-Kurses mit „Sehr Gut“ ab.

27. März 2018: Es ist später Vormittag als Karin Tschare-Fehr, Nasrullahs Ärztin, einen Anruf bekommt. „Ich bin sofort hingefahren. Die Tür stand offen. Ein Polizist hat sich mir in den Weg gestellt und gesagt, dass er seine Sachen packt und nicht mit mir sprechen darf. Dann wurde Nasrullah in Schubhaft gebracht. Wir konnten uns nicht einmal verabschieden“, sagt Tschare-Fehr mit Tränen in den Augen. „Am Tag seiner Festnahme hätte Nasrullah zu mir kommen sollen. Ich hatte einen Friseurtermin und hab’ seinen Anruf nicht gehört. Wenn er bei mir gewesen wäre, hätte ihn die Polizei nicht gefunden. Wir hätten einen Anwalt einschalten können, vielleicht wäre er jetzt noch da“, sagt Seibt.

29. März 2018: In der Trafik im Schubhaftzentrum der Rossauer Lände können Telefonwertkarten gekauft werden. Fünf Minuten kann Nasrullah täglich telefonieren. „Beim ersten Anruf hat er sich gar nicht ausgekannt. Er hat geglaubt, er sei in einem Gefängnis für normale Kriminelle“, erzählt Seibt.

1. April 2018: Nur zwei Besuchstage gibt es pro Woche. Eine halbe Stunde darf man durch eine Glasscheibe miteinander sprechen. Beim ersten Besuch merkt Seibt, dass der junge Mann noch hofft, dass er wieder rauskommt. „Es war klar, dass wir eine Schubhaftbeschwerde erheben, weil zu keinem Zeitpunkt Fluchtgefahr bestanden hatte.“

4. April 2018: „Am Schlimmsten war für ihn, 24 Stunden in dieser Zelle zu sein und keine Beschäftigung zu haben. Auch in den Hof durfte er immer nur ganz kurz. Im Internet gibt es eine Liste mit Dingen, die man mitbringen darf. Ich hab Unterwäsche, Socken und Bücher geschickt“, erzählt Seibt. Auch Geld hat sie ihm dort gelassen. „Wenn man aber mehr als 40 Euro in der Zelle hat, wird der übersteigende Betrag abgenommen und für die Schubhaft oder den Flieger benutzt“, fährt sie fort.

6. April 2018: Nasrullah ruft Seibt an. Er ist völlig fertig. „Er hat kapiert, dass er wirklich abgeschoben wird. Dieser Anruf war schrecklich. Alles hat sich überschlagen. Zuerst haben wir den Termin für die Schubhaftbeschwerde bekommen, auf die er sich verlassen hat. Dann hab ich auf Umwegen aber erfahren, dass er auf der Liste der Abschiebungen steht. Ich hab Gott und die Welt in Bewegung gesetzt, um es noch abzuwenden“, sagt die 67-Jährige Gablitzerin.

8. April 2018: Seibt besucht Nasrullah noch einmal in Schubhaft. Er befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits in einer anderen Zelle, mit all jenen Asylwerbern, die abgeschoben werden. „Wir waren alle sehr aufgeregt. Aber Nasrullah war viel ruhiger. Als ich das gesehen habe, habe ich nur noch überlegt, wie wir ihm in Afghanistan helfen können“, erzählt die Germanistin. Sie schickt ihm Geld.

9. April 2018: Mit einem Flugzeug von Schweden über Wien verlässt Nasrullah Österreich und wird in sein Geburtsland abgeschoben. Seine Heimat ist es nicht mehr.

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10. April 2018: Seibt arbeitet weiter an der Schubhaftbeschwerde. „Es macht auch Sinn, wenn er nicht da ist. Wenn er zu Unrecht eingesperrt war, wird das finanziell noch kompensiert.“

11. April 2018: Seibt erfährt, dass Nasrullah in Kabul angekommen ist. „Telefonieren schaffe ich noch nicht, das dauert noch ein paar Tage“, sagt Seibt. Sie ist noch durcheinander. In Gablitz herrscht Fassungslosigkeit. „Wir haben zwei Jahre lang alles, was in unserer Macht stand, dafür getan, dass er bleiben kann. Wir haben ein friedliches Miteinander im Ort geschaffen. Nasrullah hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Trotzdem war alles umsonst“, sagt Tschare-Fehr.

16. April: Nasrullah meldet sich aus Kabul über Facebook-Messenger. Es gehe ihm nicht gut, schreibt er. Die Stadt ist ihm fremd, die Leute misstrauen einander, alles sei neu und ungewohnt für ihn. Er wohnt jetzt bei einem Schwager, der hat ihn auch vom Flughafen abgeholt. Beim Rückflug hat er mit den Polizisten gesprochen, die seien sehr freundlich gewesen. Was er in Kabul machen soll, weiß er nicht, er habe keinen Job in Aussicht, kein Geld, und weiß nicht, wie lange er das noch durchhalten kann. Er will so schnell wie möglich wieder raus aus dem Land, er hat immer noch Angst, dass er verfolgt wird. In einer Nachricht schreibt er: „Wenn ich nicht von hier wegkomme, dann werde ich die nächsten Monate nicht überleben.“

22. April 2018: Bei einem Anschlag vom „Islamischen Staat“ (IS) werden in Kabul 57 Menschen getötet.

24. April 2018: Die Bombe ist in Nasrullahs Nähe detoniert. Via Messenger meldet er, dass er wohlauf ist.

Chronologie einer Abschiebung

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