Krems und seine jüdische Vergangenheit: "Keiner wollte darüber sprechen"
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Tagtäglich passierte Robert Streibel auf seinem Schulweg das Haus des Rechtsanwalts Paul Brüll in der Kremser Schillerstraße. Auch wenn die Familie dort nicht mehr lebte, kannte er ihre Geschichte gut. „Meine Großmutter war dort als Haushaltshilfe angestellt. Sie hat mir schon früh die Geschichte erzählt, wie die Nazis 1938 ins Haus gekommen sind und ihn geprügelt haben. Sie musste das Blut wegwischen“, erinnert sich der heute 63-Jährige. Er wollte mehr erfahren: „Keiner war begeistert, als ich Fragen zu dieser Zeit stellte, keiner wollte darüber sprechen.“
Forschung auf eigene Faust
Der heute in Wien Lebende ließ sich nicht beirren, mit vielen Zeitzeugen-Interviews begab er sich auf die Spuren der jüdischen Geschichte seiner Heimatstadt. Über einen Brief, den ein Gesprächspartner für Streibel weiterleitete, knüpfte er Kontakte nach Israel, Amerika und England, wo er 1985 dann persönlich im Kindes- bzw. Jugendalter aus Krems Geflüchtete interviewte.
Daraus entstand sein erstes Buch „Plötzlich waren sie alle weg. Die Juden der ,Gauhauptstadt’ Krems und ihre Mitbürger“. Streibel: „Das war österreichweit die erste Darstellung einer jüdischen Gemeinde überhaupt“.
Die Geschichte der Familie Brüll sei aber lange ein „weißer Fleck auf der Erinnerungslandkarte geblieben“ – bis er in einem Archiv in Amerika Informationen fand. Eine Tochter der Familie, Susanne Brüll, konnte aufgrund einer Behinderung nicht mit der Familie auswandern und lebte seither in der Schweiz, wo er sie besuchte.
Zeitgeschichte erleben
Zwar starb mit Susanne 2019 die letzte Vertreterin des jüdischen Krems, die Erinnerungskultur werde laut Streibel aber heute so aktiv gelebt wie nie zuvor. Mittlerweile gibt es in der Stadt einen Historikerinnen-Beirat, der etwa mit Umbenennungen von Straßen und auch Rundgängen durch Zeitgeschichte der Stadt aufmerksam macht.
„Ohne Übertreibung kann ich sagen: Es gibt nicht viele Städte, wo so lückenlos die Zeitgeschichte sichtbar gemacht werden wird“, gab Streibel kürzlich eine Ausblick, als ihm die Stadt Krems mit einer goldenen Wappenplakette dankte.
Mit seiner Forschung habe er sich in Krems nicht immer beliebt gemacht. Widerstand von Betroffenen interpretiert Streibel aber als Angst und Ausrede vor der eigenen Historie. Dabei brauche es aber vor allem die Aufarbeitung von Tätergeschichten, so der Historiker: „Aus den Geschichten der Opfer kann man nichts lernen. Von denen der Täter schon. Man kann hinterfragen, wie es so weit kam. Ohne die Täter gäbe es keine Opfer.“
Viele Forschungsfelder
Dieser historische Bereich sei laut Streibel nur einer von vielen, der bisher – nicht nur in Krems – wenig Beachtung bekommen hätte. „Es wurde bisher nicht einmal der Versuch gemacht, die Geschichte von Zwangsarbeitern, die es damals in jedem Betrieb und Bauernhof gab, zu erzählen“, ist für Streibel kein Ende seiner Arbeit in Sicht. „Ich habe auch die Namen von 20 bis 30 Euthanasie-Opfern der Nationalsozialisten aus Krems.“
„Die Kremser Geschichte ist die Geschichte von vielen“, erklärt der Historiker, wobei diese nicht nur von in Krems Lebenden geschrieben wurde. Da sich im Stadtteil Gneixendorf ab 1939 das größte Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager – STALAG 17b – befand, gäbe es auch viele internationale Geschichten zu erzählen.
Lokale Weltgeschichte
Zuletzt arbeitete Streibel die Geschichten mehrerer griechischer Häftlinge auf. Sein Roman über einen späteren Metropoliten am Peloponnes wurde sogar ins Griechische übersetzt. „Dadurch habe ich viele neue Kontakte zu griechischen Historikerinnen knüpfen können. Es ist damit also nicht nur eine Geschichte über Krems, sondern auch Weltgeschichte“.
Um diese auch zu erzählen, geht der Historiker und Direktor der Volkshochschule Hietzing oft neue Wege. Die Geschichte von zwei inhaftierten Griechinnen hat er vor wenigen Wochen über einen Podcast (zu hören bei Spotify, Apple Podcasts oder auf Streibels Webseite www.streibel.at) zugänglich gemacht.
Forschung
Robert Streibel setzt sich mit der Kremser Zeitgeschichte und dem Nationalsozialismus auseinander. Wichtige Themen seiner Forschung sind neben der jüdischen Geschichte unter anderem das Massaker von Stein, der Winzergenossenschaft Krems und das Kriegsgefangenenlager STALAG 17B
Publikationen
Robert Streibels erstes Buch „Plötzlich waren sie alle weg“ erschien 1992. Weitere allgemeine Bücher über Krems erschienen 1994 und 2014. Mit „April in Stein“ veröffentlichte Streibel seinen ersten Roman
Einen ähnlich modernen Zugang schuf er auch mit seinem Roman „April in Stein“, worin er wahre Geschichten über Verfolgung, Flucht und mehr erzählt. „Damit ist die unangenehme Geschichte in Krems angekommen. Menschen konnten durch die Geschichten aus ihrer Heimat einen Bezug herstellen“, ist Streibel überzeugt.
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