Im Märchenschlaf: Schloss Thürnthal, die verfallene Schönheit
Die Hitze an diesem Julitag ist drückend, doch in der Entfernung kündigen sich schon dunkle Gewitterwolken an, als das Auto vor dem Schloss Thürnthal hält. Gerhard Zehethofer, Schlossbesitzer und einziger Bewohner des Anwesens im niederösterreichischen Fels am Wagram, winkt. Er ist gerade mit Gartenarbeiten beschäftigt und raucht dabei einen Zigarillo. In Jeansshorts und ärmellosem Shirt entspricht der 70-Jährige nicht dem Klischee eines Schlossherren – aber das tut auch das Schloss nicht.
Der erste Eindruck des Anwesens ist imposant. Eine Steinbrücke führt über den trockenen Wassergraben zum großen Tor. Hohe Säulen lenken den Blick zum Dach des vierstöckigen, barock-klassizistischen Gebäudes. Die Wiese rund um das Schloss ist mit roten und blauen Flecken gesprenkelt – Mohnblumen und Storchenschnäbel, die der „zuagraste Mostviertler“ beim Mähen ausgespart hat.
Doch die Schönheit des Anwesens ist verwittert. An mehreren Stellen legt bröckelnder Putz den Blick aufs Mauerwerk frei, ein Eck ist samt Fenstern vollständig von Efeu überwachsen, einige der rund 250 Fenster sind mit Brettern vernagelt oder zugemauert, das Bassin des barocken Springbrunnens ist leer. Die besten Jahre hat Schloss Thürnthal hinter sich – und zwar schon lange.
Seinen prachtvollen Anfängen – Joseph Emanuel Fischer von Erlach war einer der Baumeister – und aristokratischen Vorbesitzern zum Trotz, begann der Niedergang bereits in den 1870er-Jahren. Nach Ende der Herrschaft der damals letzten Bewohner hielt in dem alten Gemäuer die Industrie Einzug und es wurde u. a. als Zucker-, Stärke- und Seifenfabrik zweckentfremdet.
Ein jüdischer Industrieller kaufte das Schloss 1910, und wurde 1938 von den Nationalsozialisten enteignet. Während des 2. Weltkriegs diente das Gebäude dann als „Luftschutzbergungsort und Kunstdepot“ – auch Klimts Beethovenfries war hier untergebracht. Zuletzt wurden die einst so prunkvollen Räume nur noch als Silo genutzt. „Mit dem Schloss wurde alles gemacht, was nicht mit einem Schloss gemacht werden sollte“, sagt Zehethofer.
„Es ist eine Berufung“
Bis er 1998 über ein Inserat auf das Gebäude samt 9.000 m2 Grund aufmerksam wurde. „Ich bin ein Idealist und wollte versuchen, ein erhaltenswertes Gebäude zu retten. Meine damalige Lebensgefährtin war auch ganz verliebt ins Schloss.“
So fiel der Entschluss und er kaufte es, wie es war: Ohne Strom, ohne fließendes Wasser und praktisch vollständig ausgeräumt. „Alles was wertvoll war und weggetragen werden konnte, wurde weggetragen“, erzählt er über den Urzustand. Er will nie wieder weg. „Wir haben jetzt unser 25. Jubiläum, das Schloss und ich“, sagt er stolz.
Man könnte durch die langen Zimmerfluchten gehen und nur die Schäden, Zerstörungen und Leerstellen sehen, die dem Gebäude über die Jahre „brutal und mit fehlendem Kunstverständnis“ zugefügt wurden: Den fast überall entfernten Sternparkettboden, die fehlenden Stuckelemente an den Decken, die in Fabrikszeiten aufgeschnitten wurden, die teils zerschlagenen, teils verschwundenen meterhohen Kachelöfen, die einst die Räume zierten.
Doch Zehethofer hat die Begeisterung für die Schönheit seines Zuhauses nie verloren und lenkt den Blick seiner Gäste unentwegt auf die Besonderheiten: „Das ist meine Lieblingsstuckdecke – hier sieht man Dädalus und Ikarus, die ersten Flieger der Geschichte.“ Die Säulen in der Schlosskapelle, „massiver Marmor, da wurde nicht gespart“.
Dass er einmal ein Schlossherr werden sollte, war nicht wirklich vorherzusehen. Nach dem Chemie- und BWL-Studium war Zehethofer in verschiedenen Branchen als Manager tätig. Die Arbeit in und am Gebäude jedoch „ist Berufung“, sagt er. Und statt eines Jobs hat er jetzt viele: Unter anderem ist er Elektriker, Installateur, Maurer, Gärtner – und Dachdecker.
„Das Dach muss man permanent verbessern, damit es nicht reinregnet“, sagt er und zeigt seine aufgeschürften Unterarme her. „Einmal bin ich dabei von der Leiter gefallen und habe mir die Schulter ausgekugelt“, erzählt er und lacht. Man darf nicht zimperlich sein auf Schloss Thürnthal.
Im Winter etwa kommt es in den drei Räumen, die er hauptsächlich bewohnt, auf 10, maximal 15 Grad. „Es ist halt so, wenn man es wirklich warm haben möchte, kann man es als Normalsterblicher nicht bezahlen. Also ziehe ich mir zehn Schichten an und bleibe in Bewegung.“ Da trifft es sich gut, dass er bis in seine Küche rund 40 Meter zurücklegen muss. „Hitze vertrage ich eh nicht so gut“, sagt Zehethofer.
Hürdenlauf bei Behörden
Der barocke Blindboden knarzt unter den Schritten. In der Luft hängt der Geruch der Leinölfirnis, die in einem Becken hinter leicht angestaubter Theaterdeko aufbewahrt wird. Ist er jemals einsam? „Ich bin eigentlich immer alleine hier. Mir geht aber nichts ab. Nachdem ich den ganzen Tag arbeite, bin ich rund um die Uhr abgelenkt.“ Um dann doch nachzusetzen: „Natürlich, eine gewisse menschliche Nähe wäre schön, eine Partnerin, oder ein paar Leute, die hier wohnen, mit denen man sich gut versteht.“
Er schaltet im Stiegenhaus den Lichtschalter ein. Das Licht flackert heftig, dann geht es aus. „Eieiei, das spinnt leider manchmal.“ Hat er eigentlich jemals Angst, so ganz allein im Schloss? Darauf ein eindeutiges Nein. „Für die meisten Geräusche im Schloss gibt es eine Erklärung“, erklärt Zehethofer. „Es gibt keine Geister hier. Ich habe kein Spukschloss, sondern ein Stuckschloss.“
Die Herausforderungen am Schlossleben finden für Zehethofer großteils außerhalb der Mauern statt. Besonders mit den Behörden und der Gemeinde gab es von Anfang an Probleme. „Statt das einem geholfen wird, werden einem Steine in den Weg gelegt“, sagt er bitter. Wurde das Schloss in den ersten Jahren noch als Veranstaltungslocation, für Adventmärkte, Kindertheater und ähnliches genutzt, untersagten die Behörden derlei schließlich.
Idealismus als Triebfeder
Und so versank das Schloss bis heute wieder im Märchenschlaf, von einzelnen interessierten Besuchern abgesehen. Das Vertrauen in die Behörden hat Zehethofer durch seine Erfahrungen der vielen Jahre verloren. Was ihm bleibt, ist der felsenfeste Idealismus. „Ich werde auch oft als Spinner bezeichnet. Die meisten sagen es indirekt, etwa: ,So etwas könnte ich mir nie vorstellen.' Aber bereut habe ich es nie.“
Was wünscht er sich für sein Schloss? „Eine gute Zukunft! Möge es ewig stehen und immer weiter verbessert werden. Vielleicht sogar in seinen Urzustand zurückversetzt werden“. Hätte er unbegrenzte Mittel zur Hand, er würde es komplett herrichten und für eine künstlerische Nutzung zur Verfügung stellen.
Zum Schluss führt der Weg noch in den vierten Stock. Die Gewitterwand hat Thürnthal erreicht, der Regen prasselt gegen die mit Brettern vernagelten Fensteröffnungen. Ein angenehmer Wind zieht in die im Dämmerlicht liegenden Zimmer, deren Boden von einer weichen Staubschicht bedeckt ist.
Es ist einzigartig schön hier.
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