Eiserner Vorhang: "Diese Geschichte muss jeder Europäer kennen"

Eichtinger ist auf dem historischen Bild am linken Rand zu sehen
Landesrat Martin Eichtinger war 1989 Augenzeuge, als Mock und sein ungarischer Amtskollege den Stacheldraht durchtrennten.

Es waren mehrere kleine Schnitte mit großer Symbolkraft, die Martin Eichtinger – damals 28 – aus nächster Nähe miterlebte. Als Österreichs Außenminister Alois Mock (ÖVP) und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn am 27. Juni 1989 nahe Klingenbach im Burgenland zum Bolzenschneider griffen, um den bis dahin streng bewachten Grenzzaun aus Stacheldraht zu durchtrennen, stand Eichtinger nur einen Schritt daneben – verewigt auf jenen Bildern, die um die Welt gingen und in mehreren Schulbüchern Platz fanden. Als Büroleiter von Mock bekam er die internationalen Verwicklungen um den Fall des Eisernen Vorhangs vor 30 Jahren in der vordersten Reihe mit.

An das historische Treffen zwischen Klingenbach und Sopron (Ungarn) erinnert eine Vergrößerung des Bildes in seinem Büro im Landhaus St. Pölten. "Auch wenn ich damals nur der persönliche Sekretär von Alois Mock war und dort keine aktive Rolle hatte, bin ich natürlich stolz, Teil dieses Moments gewesen zu sein", erzählt Eichtinger, der mittlerweile Landesrat für Wohnbau, Arbeit und Europafragen in Niederösterreich ist. Gefreut habe er sich, als sein Sohn "eines Tages nach der Schule nach Hause kam und sagte, 'Papi, Papi, du bist in meinem Geschichtsbuch'", erinnert sich der Politiker.

Eiserner Vorhang: "Diese Geschichte muss jeder Europäer kennen"

Ort des Geschehens

Symbolik

Organisiert wurde der symbolische Akt 1989 vor allem deswegen, weil sich anfangs die internationale Presse für die Demontage des ungarischen Grenzzauns nicht interessierte. "Mocks Hoffotograf Bernhard Holzner kam nach dem 2. Mai ins Außenamt und war enttäuscht, weil keiner auf seine Bilder, die er verschickt hatte, reagierte. Er meinte, das ist ein Wahnsinn, die räumen dort den Eisernen Vorhang weg und keiner sagt was dazu", erzählt Eichtinger.

Mock habe damals die Symbolkraft sofort erkannt und gemeint, das müsse die Öffentlichkeit erfahren. Es dauerte aber noch Wochen, bis der Stacheldraht gemeinsam durchschnitten wurde, weil die Ungarn diesen Schritt zuerst in den eigenen Reihen diskutierten. "Interessant war, dass man auch im Außenministerium skeptisch war. Es könnte ja so aussehen, dass Mock den Zaun mitabbaut, weil er den auch mitaufgestellt hat. Aber er wusste, wie wichtig diese Symbolik für die Osteuropäer war", sagt Eichtinger. Tatsächlich verbreitete sich das Foto rasend schnell. "Die historische Tragweite erkannten wir, als uns unzählige Reaktionen erreichten."

Zusammenbruch

Dass der Zusammenbruch des Ostblocks – dazu gehörten Polen, Ungarn, die DDR, Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien unter dem Einfluss der Sowjetunion – 1989 Realität wurde, war die Summe vieler kleiner Mosaiksteine. "Erste Eindrücke, dass sich dort dramatisches tut, lieferte zwischen Februar und April ein Runder Tisch in Polen, bei dem es darum ging, dass Parlamentssitze an die Opposition gehen mussten. Die Zeit der Unterdrückung war vorbei", erklärt Eichtinger.

Im darauffolgenden August war es das "paneuropäische Picknick", das 600 Menschen aus der DDR für ihre Flucht über die ungarische Grenze nach Österreich nutzten. Trotz des enormen Drucks der DDR ließen die Ungarn weitere Bürger ausreisen, wodurch die Protestbewegung in Ostdeutschland an Stärke gewann.

Mauerfall

"Mock und ich waren in Brüssel, als wir am 9. November 1989 gegen 23 Uhr geweckt wurden. Der Pressesprecher meinte, Mock müsse eine Erklärung abgeben. Die Berliner Mauer ist gefallen", so Eichtinger. Im Pyjama hätten sie eine Aussendung formuliert.

30 Jahre später sei es für junge Europäer schwer vorstellbar, wie grauenhaft das Leben in Osteuropa war. "Die Menschen haben unter der permanenten Bespitzelung gelitten, Fleisch und Obst waren Mangelware und jeder musste mit der Angst leben, bei einem kritischen Wort ins Gefängnis geworfen zu werden", weiß Eichtinger. Vieles in Europa könne man erst verstehen, wenn man die Historie kenne, dass Bürger im Osten fast 50 Jahre lang unter dem enormen Druck des Kommunismus standen. "Wer das erlebt hat, ist ein noch überzeugterer Europäer. Man schätzt die europäischen Werte und Freiheiten umso mehr", meint Eichtinger. Gerade der Brexit zeige, wie eng die Staaten bereits verzahnt seien und dass es im "internationalen Konzert" keine Alternative zu einer stärker werdenden EU gebe.

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