Konsum verdrängt altes Feindbild

Bis1989 riegelte der Eiserne Vorhang die Grenze ab, die sich tief ins Bewusstsein der Menschen grub.
25 Jahre danach ein Mythos – seine Opfer reden nicht, die Jungen kennen ihn nicht.

Mit Einkaufssackerln bepackte Menschen eilen in beide Richtungen über die Fußgängerbrücke zwischen Gmünd im Waldviertel und der tschechischen Stadt České Velenice. Sie ignorieren Warnschilder, die eine Staatsgrenze signalisieren. 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist der ehemalige Todesstreifen aus der Wahrnehmung verschwunden: Jüngere Menschen erfuhren nichts über die Todesmaschinerie. Und Zeitzeugen hüten sich, alte Wunden aufzureißen.

Verdrängung und fehlende Aufarbeitung sorgen für unterdrückte Emotionen. Was das Zusammenleben mit Tschechen entlang der nö. Grenze heute bestimmt, ist hauptsächlich grenzüberschreitender Konsum.

Verschlossen

Fragt man Pensionisten, die vormittags massenhaft in tschechische Konditoreien strömen, nach dem Eisernen Vorhang, so weichen sie aus. "Ich erinnere mich nicht. Und Ende", lautet die Antwort einer Frau um die 80. Zu tief sitzt bei vielen der Schmerz der Vertreibung von Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg – viele von ihnen fanden in Niederösterreich eine neue Heimat. "Regelmäßig kramen 80-Jährige Fotos von ihren einstigen Häusern und Familien in Tschechien hervor", erzählt Andreas Beer, Bürgermeister von Gmünd. Mit 28 Jahren ist er der erste Stadtchef, der den Eisernen Vorhang nicht mehr bewusst miterlebt hat. "Die Älteren erwarten sich noch immer eine Entschuldigung für die damalige Vertreibung", sagt Beers Amtsvorgänger Otto Opelka, dem einst tschechische Grenz-Scheinwerfer des Nachts halfen, ins Schlüsselloch seiner Eingangstür zu finden.

Verbittert

Einige Vertriebene haben bis heute keinen Fuß auf tschechischen Boden gesetzt. Trotz aller Feindschaft nutzen aber ältere Semester heute überwiegend Tschechien als billiges Einkaufsparadies.

Das gilt auch umgekehrt: Tschechen stehen in Gmünder Supermärkten um Elektrogeräte an, die in Tschechien teurer sind. "Viel kann ich mir in Österreich nicht leisten. Aber ich fahre regelmäßig nach Gmünd ins Fitness-Studio", sagt Tankwart Zdeněk Tomáš, 38, der die neue Freiheit genießt. "Verkäufer in österreichischen Läden sind viel freundlicher als unsere", erzählt die aus České Velenice stammende Jozefina Mörzingerova.

Ein österreichischer Pensionist erlebt auch in Tschechien Freundlichkeit: "Besonders bei jungen Damen", sagt er augenzwinkernd. Die blühende Prostitution ist vielen Tschechen unangenehm.

Befreit

60 Kilometer weiter östlich dominieren ebenfalls große Werbetafeln für käufliche Liebe die Hauptroute nach Znaim. Trotzdem erlebt der ehemalige Landespolizeikommandant Petr Sikora – er gestaltete die Wende mit – die Grenzöffnung positiv: "Die Freiheit kannst du nicht mit Diamanten bezahlen", sagt er.

Ganz nahe, im Weinviertler Haugsdorf, zieht Tischlermeister Robert Söllner eine ernüchternde Bilanz: "Wir waren wirtschaftlich vorher am Arsch und sind es jetzt. Die meisten, die drüben eine Firma gegründet haben, sind auf die Nase gefallen."

In Znaim kennt Deutsch-Studentin Barbora Matulova den Eisernen Vorhang nicht. Die Schule hat nichts, die Eltern wenig erzählt. Ihr Zugang: "Österreich ist eine Chance für mich."

Seit 25 Jahren sorgen grenzüberschreitende Kooperationen dafür, dass zwischen České Velenice und Gmünd das Zusammenleben einfacher wird. Die Blaulichtorganisationen suchen trotz Sprachbarrieren viele Anknüpfungspunkte.

Als vorbildlich bewertet Gmünds Bezirkspolizeichef Wilfried Brocks die grenzenlose Zusammenarbeit der Polizisten in Gmünd und Südböhmen. "Es herrscht ein reger Informationsaustausch, wenn es um flüchtige Personen geht", sagt Brocks. Bilaterale Verträge machen es möglich, dass österreichische Polizisten Kriminelle auch über die Grenzen verfolgen dürfen. Bei Schwerpunktaktionen sind immer "gemischte" Streifen im Einsatz.

Auch die medizinische Versorgung kennt (fast) keine Grenzen mehr. Das EU-Projekt "Health Across" erlaubt es Bürgern aus České Velenice, Ambulanzdienstleistungen im nahen Gmünder Krankenhaus in Anspruch zu nehmen. Nur Operationen sind noch nicht möglich.

Schwieriger ist die Kooperation zwischen den Feuerwehren von České Velenice und Gmünd. "Das Problem ist, dass es in Tschechien viele Berufsfeuerwehren und nur wenige Freiwillige gibt. Auf Grund des Versicherungsschutzes ist die grenzüberschreitende Alarmierung kompliziert und muss über Budweis und Tulln erfolgen", erklärt Gmünds Feuerwehrkommandant Michael Böhm. Trotzdem gab es bereits gemeinsame Einsätze. "Außerdem wird regelmäßig gemeinsam geübt", sagt er.

Viel Aufmerksamkeit erregt das neue Buch "Halt! Tragödien am Eisernen Vorhang". Darin arbeitet der Historiker Stefan Karner, Leiter des Ludwig Boltzmann-Institutes für Kriegsfolgenforschung, erstmals Unterlagen von Grenzwächtern der damaligen Tschechoslowakei. Mit überraschenden Erkenntnissen.

"Die österreichisch-tschechoslowakische Grenze, damals Teil des Eisernen Vorhangs, ist mit 453 Kilometern nur etwa ein Drittel so lang wie die innerdeutsche Grenze. Das Frappierendste ist: An dieser österreichisch-tschechoslowakischen Grenze sind mehr Tote zu verzeichnen als an der innerdeutschen Grenze. Und fast so viele wie an der Berliner Mauer", erzählt Karner, der besonders menschliche Tragödien hervor hebt.

Überraschend: "Wir haben über 600 Tote bei den Grenzorganen, den Grenzsoldaten festgestellt, zusätzlich kamen 129 Flüchtlinge zu Tode. An der Berliner Mauer waren es 137 flüchtende Menschen", sagt Karner.

Viele der Grenzsoldaten seien durch Minen ums Leben gekommen, viele hätten sich aber auch selber das Leben genommen, weil sie ihre Tätigkeit nicht mehr ertrugen. Karner: "Wir glauben, dass der sehr breite Grenzstreifen mit einer Tiefe von bis zu zwölf Kilometern hier eine Rolle gespielt hat. Vor allem, weil ein Grenzer auf einem so breiten Streifen einen Flüchtenden natürlich viel länger beobachtet hat, als an einer Grenze, die nur wenige Meter breit oder auf eine Todeszone beschränkt ist. Das heißt, ein Soldat hat einen Flüchtenden oft stundenlang, manchmal bis zu zwei Tage lang beobachtet und musste dann entscheiden: Erschieße ich den oder nicht? Erschieße ich ein 19-jähriges Mädchen, erschieße ich eine Frau mit Kind, die ich beobachte, wie sie langsam in Richtung Grenze schleicht – oder mache ich das nicht?"

Was Karner freut: In Prag haben sich bei einer Präsentation interessierte junge Leute spontan entschlossen, sein Buch ins Tschechische zu übersetzen. Denn die historische Aufarbeitung des totalitären Regimes beginnt erst.

Wenig ist allerdings über Erlebnisse bekannt, die Zivilpersonen mit dem Eisernen Vorhang hatten. Deshalb sucht das Rechercheteam um Karner Zeitzeugen in NÖ. Kontakt: Philipp Lessiak unter 0664/1237534.

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