Dschihadismus: 20 Monate Haft für 15-Jährigen in St. Pölten
Jeans, graue Kapuzenjacke, leise Stimme, gesenkter Blick – ein 15-jähriger mutmaßlicher Dschihadist musste sich am Donnerstag erneut in St. Pölten vor Gericht verantworten. Dabei wurde der Bursch wegen der Verbrechen der terroristischen Vereinigung und der kriminellen Organisation schuldig gesprochen. Er erhielt - bei einem Rahmen von bis zu fünf Jahren Haft - eine unbedingte Freiheitsstrafe von 20 Monaten. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.
Der Angeklagte wurde verurteilt, gegenüber einer Person Propaganda für den "Islamischen Staat" (IS) gemacht und ihr zwei Lichtbilder geschickt zu haben. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, dass er andere im persönlichen Gespräch von der IS-Ideologie überzeugen wollte, war hingegen laut Richter Markus Grünberger nicht objektivierbar.
Terror-Pläne
"Urteil mit Augenmaß"
Von einem "Urteil mit Augenmaß" sprach Richter Markus Grünberger in der Schöffenverhandlung um Jihadismus in St. Pölten. Erschwerend auf die Strafbemessung hätten sich die Vorstrafe, der rasche Rückfall und das Begehen mehrerer Verbrechen ausgewirkt. Mildernd wurde der Beitrag des 15-Jährigen zur Wahrheitsfindung gewertet. Der Bursch soll in die Jugendstrafanstalt Gerasdorf kommen.
"Letzte Chance für Sie, noch einmal in unserer Gesellschaft Fuß zu fassen"
"Es ist die letzte Chance für Sie, noch einmal in unserer Gesellschaft Fuß zu fassen", mahnte der Richter den Angeklagten. Das festzusetzende Strafausmaß sei eine schwierige Frage gewesen. Im Gegensatz zum ersten Prozess gegen den Jugendlichen im Mai 2015 sei es dieses Mal um zwei Lichtbilder und nicht um Anschlagspläne auf den Wiener Westbahnhof gegangen. Die Sanktionen - 20 Monate unbedingt - seien daher dieses Mal geringer als bei der ersten Verurteilung (zwei Jahre teilbedingt). Die Probezeit wurde auf fünf Jahre verlängert.
Eines der beiden per Handy verschickten Fotos zeigte einen IS-Kämpfer mit einer Fahne, in das der 15-Jährige das Gesicht eines Bekannten hineinretouchiert hatte. Auf dem Bild war zu lesen "eines Tages" - damit habe der Beschuldigte den anderen Burschen bestärkt, in Syrien zu kämpfen, sagte Grünberger. Die Anwerbung von drei Personen im persönlichen Gespräch, zu der Zeugen befragt wurden, war dagegen nicht objektivierbar.
"Mittelmaß"-Urteil
Bei einem Rahmen von bis zu fünf Jahren Haft sowie auf der anderen Seite der Möglichkeit, eine bedingte oder teilbedingte Strafe auszusprechen, habe sich der Schöffensenat für ein "Mittelmaß" entschieden, führte der vorsitzende Richter aus. Unter Anrechnung der Vorhaft bleibt ein Strafrest von 17 Monaten.
Der Angeklagte nahm das Urteil an, die Staatsanwaltschaft gab keine Erklärung ab. Damit ist das Urteil nicht rechtskräftig.
Terrorismus und/oder Radikalisierung der Beteiligten sind keine psychiatrische Krankheit. Bei den Jugendlichen, die in Österreich wegen Terrorismus angeklagt wurden, handelt es sich um sozial benachteiligte, ausgegrenzte Personen, die eher im Rahmen einer Entwicklungsstörung von Verführern missbraucht worden sind, erklärten am Donnerstag führende Psychiater bei einer Pressekonferenz in Wien.
Die Gerichts- und Sozialpsychiater - zum Teil auch in der interkulturellen Psychiatrie tätig - versuchten, die "Seele des Terrors" darzustellen. Die Wiener Expertin Gabriele Wörgötter hat im vergangenen Jahr als Gerichtspsychiaterin bei Jugendlichen unter Anklage nach dem Terrorparagrafen interessante Beobachtungen gemacht. Sie deuten vor allem auf einen psychosozialen Hintergrund von Radikalisierung hin.
"Ich habe sechs Jugendliche untersucht. Der jüngste war knapp 14 Jahre alt, der älteste etwas mehr als sechzehneinhalb Jahre alt. Es waren alle männliche Jugendliche", sagte die Psychiaterin. Das Verlockende der Radikalisierung wäre bei allen Untersuchten gewesen: "Einfache Wahrheiten, Gemeinschaftsgefühl, klare Identitäten und Feindbilder, machtvolle Rhetorik und Abenteuer und Sinngebung." Im Grunde hätte es sich noch um Kinder gehandelt. "Sie sehen auch so aus."
"Bei allen fehlte die Vaterfigur"
Die Gemeinsamkeiten in der Lebensgeschichte der Jugendlichen, die zum Teil für den IS nach Syrien gegangen, zum Teil nach Österreich zurückgekehrt waren und zum Teil auch in Österreich verdächtigt worden waren, Anschläge zu beabsichtigen, seien frappant gewesen, sagte die Expertin: "Keiner der Jugendlichen hatte eine psychiatrische Erkrankung. Alle hatten eine frühe Bindungsstörung. Bei allen fehlte die Vaterfigur. Alle Jugendlichen waren vor ihrem 'Anschluss' an den IS sozial isoliert und aus ihrer Peer Group (Gleichaltrige; Anm.) ausgegrenzt." Zerbrochene Familien, Isolation etc. seien markante Hintergrundbedingungen gewesen.
"Heimatlosigkeit"
Das ergänzte sich offenbar mit Orientierungslosigkeit und schuf ein Vakuum, in dem die Jugendlichen für radikale Ideen - wahrscheinlich im Grunde jedweder Form - anfällig wurden. "Alle hatten ein Gefühl der Heimatlosigkeit. Alle hatten vor ihrer Radikalisierung kein islamisches Denken. Keiner hatte eine spezifische Kenntnis des Islam", erklärte Wörgötter.
Wie weit die Radikalisierung gehen kann, schilderte die Expertin gemäß den Erfahrungen, die einer der Betroffenen beim IS gemacht hatte. Nach dem Grenzübertritt von der Türkei nach Syrien seien die Jugendlichen in ein Lager mit 250 Gleichaltrigen gekommen. Es wurden vom IS zwei Gruppen gemäß der Frage gebildet, ob der Einzelne bereit sei, sich als Selbstmordattentäter zu engagieren oder nicht. "Was glauben Sie, wie viele haben sich zu der Selbstmordattentäter-Gruppe gemeldet?", fragte die Expertin bei der Pressekonferenz. Ihre Antwort: "60 Prozent haben sich für Selbstmordattentate zur Verfügung gestellt."
Grundrechtseinschränkungen schädlich
Der Wiener Sozialpsychiater Johannes Wancata (MedUni Wien/AKH) fasste die psychosozialen Hintergründe für Radikalisierung und Terror so zusammen: "Es gibt keine Krankheit, die zu Terrorismus führt. Terroristen sind nicht krank, sie sind zumeist gesund und sogar sehr gesund." Es handle sich nicht um Krankheit, sondern um Verhaltensweisen.
Umgekehrt könne man an der Reaktion von Politik und Öffentlichkeit auf den Terrorismus den Zustand der Gesellschaft ablesen - auch den Erfolg, den solche Gewaltakte haben. "Terrorismus ist eine Form der psychologischen Kriegsführung", betonte Wancata. Terrorakte zielten über das Leid der direkt Betroffenen hinaus und seien geplant, um die gesamte Gesellschaft zu treffen.
"Wenn wir uns auseinanderdividieren lassen, hat der Terrorismus das erreicht, was er wollte"
Der Sozialpsychiater warnte vor falschen Reaktionen auf die Terrorgefahr: "Wenn wir uns auseinanderdividieren lassen, hat der Terrorismus das erreicht, was er wollte. Wenn wir Reisefreiheit, Pressefreiheit und die Grundrechte eingeschränkt haben, haben die Terroristen Erfolg gehabt." Die Linzer Gerichtsmedizinerin Adelheid Kastner sprach von einer "Radikalisierung der Mehrheitsbevölkerung" als Konsequenz überzogener Terror- und Migrationsängste.
Das gleiche gilt laut den Experten auch für Einschränkungen im Asylwesen und bei der finanziellen Absicherung der Kriegsflüchtlinge. Der in der interkulturellen Psychiatrie aktive Psychiater Thomas Stompe (MedUni Wien/AKH) warnte: "Die Idee, Asyl nur für drei Jahre zu geben, behindert die Integration. Es ist ein Teufelkreis, in den wir da geraten."
"Gewaltbereite Menschen, die 'etwas erleben' wollen"
Adelheid Kastner definierte vier Typen von Personen, die für Rechtsradikalismus wie für Radikalismus insgesamt anfällig seien: "Da sind erstens gewaltbereite Menschen, die 'etwas erleben' wollen, Personen auf der Suche nach einer Idee, die sie ausleben können. Dann ist da die Gruppe der Mitläufer, die sich unreflektiert der Position eines Leithammels anschließen. (...) Relativ klein ist jene Gruppe, die wirklich eine Idee transportieren will. Und dann sind da die psychisch Kranken im engeren Sinn. Sie meinen, alle Menschen denken so wie sie."
Der norwegische Massenmörder Anders Breivik falle wohl in die Kategorie jener, die "ihren Wahn" ausleben würden. Auch der Bombenbauer Franz Fuchs hätte am Ende wohl zu dieser Gruppe gehört, meinte die Linzer Gerichtspsychiaterin. Rechtsradikalen sei oft die völlig falsche Vorstellung gemein, die Bevölkerung würde im Grunde auf ihrer Seite stehen. Aber, wie die Expertin betonte: "Es besteht zwischen Rechtsradikalen und anderen Radikalen kein wesentlicher Unterschied."
Die Frage ist, wie man potenziell von Radikalisierung gefährdete Kinder und Jugendliche frühzeitig finden und ihnen helfen könnte. Die Wiener Expertin Gabriele Wörgötter führte an, dass vor allem in der Schule Auffälligkeiten bemerkt werden sollten. Dazu gehörten auch Schulabsenzen und sozialer Rückzug.
Mangelnde Unterstützung und Hilfe für sozial Benachteiligte waren jedenfalls bei einigen Fällen, welche die Psychiaterin begutachtete, gegeben. "Einer wurde in die Sonderschule abgeschoben und hat darunter gelitten. Sein einziger 'Fehler' war, dass er türkische Eltern hatte, die das akzeptierten." Der Bursch hätte sich ständig wegen Faktums der Sonderschule geschämt und sei in die Isolation geraten. In einem zweiten Fall sei den völlig insuffizienten Eltern die Obsorge über ihren Sohn entzogen worden. "Im Alter von zwölf Jahren hat er gesagt, er will zum Islam übertreten. Und das Jugendamt stimmt zu."
In einem dritten Falle hätte man der des Deutschen nicht mächtigen verzweifelten Mutter eines Jugendlichen, der nur IS-Gewaltvideos anschaute, in Niederösterreich einfach eine "Visitenkarte" in die Hand gedrückt mit jener Stelle, an die sie sich in Wien mit ihren Sorgen wenden könne. Die Frau sei damit schlicht überfordert gewesen. Schließlich sollten laut den Fachleuten auch Äußerungen von Jugendlichen in sozialen Medien aufmerksam gelesen werden. Oft komme es nämlich im Lauf eines drohenden Abgleitens in die Radikalisierung zu einem "Leaking", also zum Verbreiten von Indizien für eine solche Entwicklung.
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