Braucht es ein bezahltes "Perspektivenjahr" für die Jugend?

Die 16-jährige Tessa (re.) ist eine von sechs Jugendlichen, die derzeit bei AR.SOS beschäftigt sind. Ihr Traum: eine Lehre als Bürokauffrau
Das SOS Kinderdorf fordert vom Staat ein bezahltes „Perspektivenjahr“ – vor allem für sozial benachteiligte Jugendliche.

Tessa ist eine ganz normale 16-Jährige: Die Jugendliche interessiert sich für Mode und träumt von einer Lehre als Bürokauffrau. Doch der emotionale Rucksack, den sie trägt, wiegt schwerer als bei anderen: Tessa wohnt in einer Mädchen-WG des SOS Kinderdorf in Brunn am Gebirge (Bezirk Mödling) – hier finden jene Jugendlichen ein Zuhause, die aus sozialen oder ökonomischen Gründen nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können.

Für sie ist es besonders schwer, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Auch Tessa sucht schon lange nach einer Lehrstelle – bisher erfolglos.

Soziale Schatzkiste

Doch davon lässt sich das Mädchen nicht unterkriegen: Tessa arbeitet zur Zeit im Rahmen des AR.SOS-Arbeitsprojektes im Second-Hand-Laden des SOS Kinderdorf in Guntramsdorf (Bezirk Mödling). Dort werden sozial benachteiligte Jugendliche durch spezielle Arbeitstrainings- und Schulungsprogramme jobfit gemacht, und verdienen ein erstes, eigenes Gehalt.

Tessas Arbeitstrainerin Nicole Paulitsch ist voller Lob für ihren Schützling: „Tessa ist das einzige Mädchen hier. Sie lässt sich aber nicht einschüchtern, sondern ist eine super Teamplayerin und eine große Unterstützung.“

Braucht es ein bezahltes "Perspektivenjahr" für die Jugend?

Clemens Klingan (3. v. re.), Leiter des SOS Kinderdorf NÖ, und AR.SOS-Projektleiterin Andrea Schritter (3. v. li.) mit den Jugendlichen vor der Werkstätte in Guntramsdorf

Sechs Jugendliche sind derzeit bei AR.SOS beschäftigt, im Jahr sind es 16, die hier einen Job finden: Sie kümmern sich um die Sachspenden, die Privatpersonen und Unternehmen abgeben. Radhelme, Skischuhe, Bücher, Brettspiele, Barbiepuppen, Lampen, Kaffeemaschinen, Kleidungsstücke – das Innere des Geschäfts gleicht einer bunten Schatzkiste. Hier lernen die Jugendlichen Verantwortung und den sozialen Kontakt mit den Kunden.

Ein Platz in der Gesellschaft

„Das Projekt ist essenziell für die Teilnahme der Jugendlichen an der Gesellschaft“, betont AR.SOS-Leiterin Andrea Schritter. Umso schwerer wog der Lockdown für die Jugendlichen: Die gesellschaftliche Wertschätzung fiel weg. Hinzu kommt die prekäre finanzielle Situation des Projektes: Das Geschäft finanziert sich allein über Einnahmen und Spenden.

Förderungen des AMS wurden 2018 eingestellt – ein Jahr, nachdem die Ausbildungspflicht für alle unter 18-Jährigen beschlossen wurde.

Das Arbeitsprojekt des SOS Kinderdorf wurde 1999 ins Leben gerufen und beschäftigt arbeitslose und sozial benachteiligte junge Menschen, die am freien  Arbeitsmarkt nicht oder schwer vermittelbar sind. Die Jugendlichen arbeiten in Second-Hand-Läden in Guntramsdorf und Hinterbrühl, Privatpersonen und Unternehmen können dort Sachspenden abgeben und wiederum nachhaltig einkaufen.

Insgesamt 296 Jugendliche konnten im Rahmen des Projektes in den vergangenen 22 Jahren beschäftigt und zahlreiche davon in den freien Arbeitsmarkt reintegriert werden.

2018 wurde die Förderung des AMS eingestellt. Daraufhin musste der dritte Second-Hand-Laden in Mödling geschlossen werden. Damit wurden auch Stellen von Jugendlichen und Arbeitstrainerinnen abgebaut.

Clemens Klingan, Geschäftsleiter des SOS Kinderdorf Niederösterreich, kritisiert: „Die Ausbildungspflicht muss allen Jugendliche ermöglicht werden – auch jenen, die mit weniger sozioökonomischem Kapital ausgestattet sind als andere. Förderungen dürfen nicht gekürzt werden.“

Klingan befürchtet, dass Corona die ohnehin schwierige Situation am Arbeitsmarkt für die Jugendlichen weiter verschärft hat. Er plädiert für ein bezahltes „Perspektivenjahr“, ähnlich einer Bildungskarenz für Erwachsene: Finanziell abgesichert sollen junge Menschen dadurch die Möglichkeit erhalten, erste berufliche Erfahrungen zu sammeln und freiwillige Praktika nachzuholen.

Braucht es ein bezahltes "Perspektivenjahr" für die Jugend?

Auch der 15-jährige Jan ist bei AR.SOS beschäftigt – noch: Er hat eine Lehrstelle bei McDonald's in Aussicht.

„Eine falsche Ausbildungs- oder Berufswahl, die zu einem Wechsel oder Abbruch führt, kostet dem Staat viel Geld. Dieses wäre besser in ein Jahr investiert, das jungen Menschen einen gesunden Rahmen für eine gute Entscheidungsphase gibt.“

Tessa hält weiterhin Ausschau nach einer Lehrstelle. Inzwischen kümmert sie sich um die Kleiderabteilung im Geschäft, sorgfältig hängt sie ein T-Shirt zurück auf den Haken.

Es dauert eine Weile, bis sie sich zu einem Foto überreden lässt. Hoffnungsvoll lächelt sie in die Kamera. Das kann nicht einmal die Maske verdecken.

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