Wo Freud die Psychoanalyse entwickelte: Eine Adresse schreibt Geschichte
Wien 9., Berggasse 19. Hier hat Sigmund Freud den Zugang zur menschlichen Seele entdeckt, mit dem er die Welt eroberte. Doch es war nicht die einzige Ordination, in der der „Vater der Psychoanalyse“ tätig war. Freud ordinierte zuvor in der Rathausstraße und am Schottenring, ehe er seine Wohnung samt Praxis in die Berggasse verlegte. Heute Abend beginnt im ORF die achtteilige Serie „Freud“.
Praxis von Viktor Adler
Die Übersiedlung in die Berggasse war notwendig geworden, weil der damals 35-jährige Sigmund Freud und seine Frau Martha ihr viertes Kind erwarteten und die bisherige Wohn-Ordination am Schottenring aus allen Nähten platzte. Der junge Arzt hatte die im ersten Stock des Hauses Berggasse 19 gelegene Wohnung von Viktor Adler, dem Arzt und Führer der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, übernommen, dessen Ordination hier untergebracht war. Adler hatte als Armenarzt gearbeitet, ohne für seine Behandlungen Honorare zu verlangen, was dazu führte, dass er die Praxis schließen musste.
„Unwürdige“ Ordination
Freuds neue Wohn-Ordination war in der Einrichtung bescheiden. Patienten beschrieben die Praxis so: „Man gelangte in ein finsteres, auch bei Tageslicht künstlich beleuchtetes Vorzimmer, danach in ein bedrückendes Wartezimmer. Und der Herr, der nach einigem Wartenlassen auf der Schwelle erschien und ,Bitte einzutreten’ sagte, sah wie ein typisch österreichischer Arzt aus.“ Andere Besucher erinnerten sich an Freud als „kleinen, bescheidenen Mann, der seine Patienten in einem schäbigen Sprechzimmer empfing“. Die Ordination sei „unwürdig“ eines weltberühmten Mannes gewesen.
Noch nicht berühmt
Allerdings war Freud noch gar nicht berühmt, als er im September 1891 in die Berggasse zog. Doch war er gerade damit beschäftigt, die Voraussetzungen für seinen Ruhm zu schaffen. Der Mediziner hatte seine Patienten bis dahin wie andere Ärzte eher erfolglos mit Elektrotherapien, Diäten, Drogen und Hypnose von ihren psychischen Leiden zu heilen versucht, ehe er sie ab 1894 im „freien Einfall“ erzählen ließ und so Zugang zu ihrem Unterbewusstsein erlangte. Das war die Geburtsstunde der Psychoanalyse.
Vom Wartezimmer führte eine Tür in die Arztpraxis, in der Freud die Beziehung zum Patienten aufnahm. Der psychisch Kranke solle, hinterließ er uns, „auf einem Ruhebett lagern, während man hinter ihm, von ihm ungesehen, Platz nimmt. Es ist gleichgültig, mit welchem Stoffe man die Behandlung beginnt, ob mit der Lebensgeschichte, der Krankengeschichte oder den Kindheitserinnerungen. Jedenfalls so, dass man den Patienten erzählen lässt und ihm die Wahl des Anfangs freistellt.“
Unbewusste Prozesse
Das Ziel sei erreicht, sobald der Patient in seinen Erzählungen Einblick in sein Unbewusstes gewährt hat. Denn, und das ist Freuds große Erkenntnis, hinter jedem Verhalten stehen Motive, die dem Menschen unbewusst sind. Unbewusste Prozesse sind ein wesentlicher Teil unserer Psyche.
Der Einzug in die Berggasse brachte auch eine Veränderung der persönlichen Lebensverhältnisse Freuds. Die Familie zählte jetzt aufgrund der immer besser gehenden Ordination zum wohlhabenden Bürgertum. In seiner Glanzzeit sollte Freud zehn, Analysepatienten pro Tag behandeln, die pro Analysestunde zwischen 10 und 100 Kronen (heute bis zu 300 Euro) zahlten, zumal er auf die finanzielle Situation der jeweiligen Patienten Rücksicht nahm. Bedürftige behandelte er kostenlos.
Mehrere Dienstboten
So revolutionär Freud in seiner Arbeit war, so konservativ lebte er. Für Neuerungen wie Auto, Telefon und Schreibmaschine konnte er sich lange nicht erwärmen. Er las die Neue Freie Presse, konnte sich alljährlich, wie es damals in „besseren Kreisen“ üblich war, einen dreimonatigen Sommerurlaub leisten, hatte mehrere Dienstboten und verkehrte „standesgemäß“.
Freud behandelte in der Berggasse im Verlauf von fast 50 Jahren tausende Patienten. Schwere Fälle und leichtere, heilbare, aber auch solche, die unheilbar blieben oder nur geringe Linderung zeigten. Jede einzelne Schlussfolgerung, die er für sein wissenschaftliches Werk zog, stammt aus den Erfahrungen, die ihm diese Patienten brachten. Sein Resümee aus den vielen neurotischen Schicksalen zeigt nüchternen Pessimismus: „Wie für den einzelnen, so ist auch für die ganze Menschheit das Leben schwer zu ertragen.“
Wien, sagte Freud einmal, sei der Ort, „über den man sich zu Tod ärgert und wo man trotzdem sterben will“. Letzteres war ihm nicht vergönnt, er wurde mit 82 Jahren von den Nationalsozialisten aus dieser Stadt vertrieben und starb ein Jahr später in London.
Die wahre Größe des Mannes, dessen Erkenntnisse die Welt veränderten, sollte der Menschheit erst nach seinem Tod bewusst werden.
georg.markus
TV Tipp
Heute, Sonntag, 20.15 Uhr, ORF 1 „Freud“ (1. Folge).
Heute, Sonntag, 21.15 Uhr, ORF 1 „Freud“ (2. Folge).
Weitere Folgen: Mittwoch, 18. und Sonntag 22. März.
Kommentare