Tante Jolesch: "Solche Bücher sollten öfter geschrieben werden"

Eine Schwiegermutter schenkt ihrem Schwiegersohn zu Weihnachten zwei schöne Krawatten. Als das junge Ehepaar am nächsten Tag zu ihr kommt, ist’s für den Schwiegersohn klar, eine der beiden Krawatten anzulegen. Da sieht ihn die Schenkerin schon an der Türe missbilligend an: „Ach?“, macht sie. „Die andere hat dir nicht gefallen?“
Freunde gepflegten Humors erkennen auf den ersten Blick, dass diese Geschichte aus der Bibel des österreichischen Anekdotenreichs stammt, aus Friedrich Torbergs „Tante Jolesch“, die vor genau 50 Jahren das Licht der Welt erblickte. Und deren Aussprüche seither zu geflügelten Worten wurden:
„Was ein Mann schöner is wie ein Aff is a Luxus.“
„Gott soll einen hüten vor allem, was noch ein Glück ist.“
„Alle Städte sind gleich, nur Venedig is e bissele anders.“
„Was andere Mädchen Verhältnisse haben, geh ich in Vorträge.“
Neben der besagten Tante setzte Torberg mit dem im Sommer 1975 erschienenen Buch auch legendären Kaffeehausliteraten, die er als junger Schriftsteller in der Zwischenkriegszeit selbst noch kennengelernt hatte, ein Denkmal, darunter Karl Kraus, Anton Kuh, Egon Friedell und Alfred Polgar.
Apropos. Als Polgar beim Verlassen des Kaffeehauses von einem lästigen Gast gefragt wurde: „In welche Richtung gehen Sie, Herr Polgar?“, gab der die heute sprichwörtliche Antwort: „In die entgegengesetzte.“
Torberg wurde, nachdem er sich mit bereits 22 Jahren durch den Erfolgsroman „Der Schüler Gerber hat absolviert“ einen Namen gemacht hatte, Theaterkritiker und nebenbei ein preisgekrönter Wasserballspieler. Im Jahr 1908 in Wien als Friedrich Kantor in eine jüdische Familie geboren, führt der Umstand, dass er sich Torberg nannte, zu einer weiteren Anekdote in der „Tante Jolesch“:
Der Schriftsteller und Karl-Kraus-Freund Gustav Grüner warf Torberg vor, sein Pseudonym aus purer Eitelkeit gewählt zu haben, worauf Torberg ihm widersprach und erklärte, dass das Pseudonym Torberg aus der Endsilbe seines Vaternamens – Kantor – und dem Geburtsnamen seiner Mutter – Berg – entstanden sei, „Hätte mein Vater z. B. Rosenblatt geheißen und meine Mutter Gold, dann hätte ich mich –“
„Dann hätten Sie sich auch Torberg genannt“, zischte Grüner.
Weitere berühmte Aussprüche aus der „Tante Jolesch“ lauten:
„Was setzt du dich hin Karten spielen mit Leuten, was sich hinsetzen Karten spielen mit dir?“
„Für platonische Liebe bin ich impotent.“
„Was kann schon aus einem Tag werden, der damit beginnt, dass man aufstehen muss.“
Selbst wenn sie zahllose solcher Pointen hinterließ, ist „Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“ auch ein Buch der Wehmut. Denn die hier beschriebenen Originale gibt es längst nicht mehr, einige wurden von den Nazis ermordet.
Friedrich Torberg schrieb zwischen den Kriegen auch für das Prager Tagblatt, dessen Chefredakteur Karl Tschuppik ein weiterer Protagonist der „Tante Jolesch“ ist:
Als Tschuppik sich vom Direktor des Deutschen Theaters in Prag einmal unfreundlich behandelt fühlte, schickte er zur nächsten Premiere, Lessings „Minna von Barnhelm“, strafweise statt eines Kritikers den Redaktionsdiener Reisner. Der schloss seine Kritik mit dem denkwürdigen, bald zum Zitat avancierten Satz: „Solche Stücke sollten öfter geschrieben werden.“
Torberg flüchtete 1938 in die USA, von wo er manche „Tante Jolesch“-Geschichte mitbrachte. Etwa die, wie er in New York mit dem ebenfalls emigrierten Schriftsteller Franz Molnár spazieren ging. Es herrschte reger Fußgängerverkehr, und die beiden mussten unausgesetzt Passanten ausweichen, weshalb Torberg vorschlug, auf die andere, weniger frequentierte Straßenseite zu wechseln.

Friedrich Torberg
Molnár: „Über die Straße gehen? Mitten durch die Autos? So etwas macht kein vernünftiger Mensch.“
„Aber Sie sehen doch auch drüben Leute gehen, Herr Molnár. Wie sind denn die hinübergekommen?“
„Die sind schon dort geboren“, erwiderte Molnár.
Torberg kehrte 1951 nach Wien zurück, wurde Theaterkritiker des KURIER, konnte aber seinen Traum nicht verwirklichen, ein großes literarisches Werk zu schaffen. Stattdessen war er als Übersetzer von Ephraim Kishon und Autor der „Tante Jolesch“ überaus erfolgreich.
Torberg schreibt, dass die Tante Jolesch tatsächlich existiert hat, ohne jedoch ihre wahre Identität preiszugeben. Ich ging daher, vor etlichen Jahren schon, der Frage nach, wer sie wirklich war und fand heraus: Gisela Jolesch geb. Salacs kam 1875 im ungarischen Großwardein zur Welt und heiratete Herrn Julius Jolesch, später Generaldirektor der Wiener Textilwerke Mautner AG. Das Ehepaar lebte am Wiener Franz-Josefs-Kai 53/3. Stock/Tür 12.
Als man sie fragte: „Stell dir vor, Tante: Du sitzt im Gasthaus und weißt, dass du noch eine halbe Stunde zu leben hast. Was bestellst du dir?“
„Etwas Fertiges“, sagte sie.
Torberg zitiert auch ihre letzten Worte, nachdem ihre Nichte Louise sie an ihrem Sterbebett gefragt hatte: „Tante, ins Grab kannst du das Rezept ja nicht mitnehmen. Willst du uns nicht hinterlassen, wieso deine Krautfleckerln immer so gut waren?“
Die Tante Jolesch richtete sich mit letzter Kraft auf und antwortete: „Weil ich nie genug gemacht hab.“ Sprach‘s, lächelte und verschied.
Friedrich Torberg zufolge sei die Tante Jolesch im Jahr 1932 gestorben, doch das stimmt bei genauer Recherche nicht. Gisela Jolesch übersiedelte laut Meldezettel der Gemeinde Wien am 19. Mai 1938 nach Prag. Sie zählte laut Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes nicht zu den Opfern des Holocaust, sondern starb im Alter von 65 Jahren am 14. Oktober 1940 in Budapest eines natürlichen Todes.
Wie aber sah Frau Jolesch aus? Fest steht, dass Torberg dem Langen Müller Verlag fürs Cover ein Foto der Tante vorlegte, der Lektor sich jedoch für eine Zeichnung entschied, die mit der Tante keinerlei Ähnlichkeit aufwies.
Als Jahre später bei der Buchgemeinschaft Donauland eine Lizenzausgabe erschien, tauchte das Foto der Tante wieder auf – und gelangte nun auf den Umschlag. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich bei diesem Bild um das der echten Tante Jolesch handelt.
Was Torbergs Anekdotensammlung betrifft, kann man sich nur dem Urteil des Redaktionsdieners Reisner vom Prager Tagblatt anschließen: „Solche Bücher sollten öfter geschrieben werden.“
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