"Die Schrecken der anderen": 1 Toter, 2 Ermittler, kein Krimi

Eine Frau in schwarzem Blazer und Hose sitzt auf einem schwarz-weiß gefliesten Boden.
Martina Clavadetscher macht Schweizer Zeitgeschichte zum klugen Pageturner.

Dies ist kein Krimi.

Eine Leiche, zwei Ermittler ohne Auftrag, ein ominöser Klub reicher alter Herren, die sich zu undurchsichtigen Geheimtreffen zusammenfinden.

Dies ist kein Krimi.

Eine tagsüber bettlägrige Hundertjährige, die nachts durchs Haus schleicht und sonderbare Substanzen gezielt platziert. Ein begüterter Erbe, der nicht recht weiß, wohin mit sich und der seine Partnerin heimlich verfolgt.

Dies ist kein Krimi.

Eine Gruppe junger Leute, die sich angeblich zum gemeinsamen Sporteln trifft und in Wahrheit Anschläge plant. Aber: Dies ist kein ...

Martina Clavadetscher lässt ihre Protagonisten mehrmals feststellen dass die Geschichte, in der sie sich befinden, kein Krimi ist.

Okay. Sagen wir so: Aufregend und rätselhaft bis zum Schluss ist der neue Roman der Schweizer Buchpreisträgerin mindestens so wie besagte Kategorie von Spannungsliteratur.

„Die Schrecken der anderen“ beginnt in den idyllischen Luzerner Voralpen mit einem Toten im Eis. Der seelisch versehrte Archivar Schibig („Die Nebenfiguren der Geschichte sind meine Spezialität“) soll im Auftrag seines Ex-Schwagers, eines Polizisten, helfen, herauszufinden, um wen es sich handelt. Dabei wird er vom Ufer des zugefrorenen Sees aus von einer älteren Frau beobachtet, die hier, inmitten der verschneiten Landschaft, in einem Wohnwagen lebt. Und dort sündteuren Whiskey trinkt, zu dem sie Schibig bald einlädt. Die beiden werden Ermittlungspartner. Die Frau hat unbändiges Interesse an der Identität des Toten und wird bald auch in allen anderen Handlungssträngen, die zunächst noch als unzusammenhängende Kapitel daher kommen, auftauchen. „Alles ist miteinander verbunden“, prophezeit sie. Zum Beispiel auch der reiche Herr Kern, der von seiner schon ewig vor sich hinsterbenden Mutter terrorisiert wird, er möge doch endlich einen Erben in die Welt setzen. Man wird lesen, dass er noch auf ganz andere Weise terrorisiert wird. Und selbst durchaus kein Unschuldiger ist. Doch immer öfter ist er wie weggetreten, starrt vor sich hin, und manchmal ist ihm, als wäre die „Zeit rasch aus dem Raum gegangen“.

„Toleranzkaution“

Martina Clavadetscher verarbeitet in ihrem elegant gebauten Roman ein Stück Schweizer Zeitgeschichte. Man kann sie dabei durchaus in der Tradition eines Friedrich Dürrenmatt sehen. Es geht hier um die Frage, inwieweit die Eidgenossen mit den Nationalsozialisten zu tun hatten und von deren Geld, das sie von Juden beschlagnahmt hatten, profitierten. Und inwieweit NS-Kult heute noch in manchen durchaus honorigen Kreisen lebt. Clavadetscher arbeitet mit historischen Quellen und zitiert unter anderem den ehemaligen Schweizer Bundespräsidenten Jean-Pascal Delamuraz, der auf Kritik am Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg antwortete: „Manchmal frage ich mich, ob Auschwitz in der Schweiz liegt.“

Und ja, natürlich waren jüdische Flüchtlinge damals in der Schweiz willkommen. Aber nur die, die ein Vermögen bezahlen konnten. Man nannte es „Toleranzkaution“.

Das Cover des Romans „Die Schrecken der Anderen“ von Martina Clavadetscher mit einer Katze und einem toten Vogel.

Martina Clavadetscher:
„Die Schrecken der anderen“
C.H. Beck. 
333 Seiten.
26,95 Euro