"Die Schuld meines Großvaters"
Schirach. Der Name war vom ersten Tag seines Lebens an eine Belastung. Denn sein Großvater Baldur von Schirach wurde 1946 als einer der Hauptkriegsverbrecher beim Nürnberger Prozess zu 20 Jahren Haft verurteilt. Und doch ist Ferdinand von Schirach heute einer der angesehensten und erfolgreichsten Schriftsteller im deutschen Sprachraum.
Mit seinem Großvater verbindet ihn nichts als der Familienname. Gestern, Samstag, lief im ORF eines seiner beliebten TV-Gerichtsdramen, bei denen das Urteil offen bleibt.
Jugendführer
Der Großvater jedenfalls wurde verurteilt: Baldur von Schirach, 1907 in Berlin in ein liberal geprägtes Adelsmilieu hineingeboren, war der Sohn eines Theaterintendanten und einer Amerikanerin. 1932 heiratete er Henriette Hoffmann, die Tochter des Hitler-Leibfotografen Heinrich Hoffmann. Schirach war Nationalsozialist der ersten Stunde und ein begeisterter Anhänger Hitlers. Der dankte es ihm mit dem Titel „Jugendführer des Deutschen Reichs“.
„Europäische Kultur“
Als Baldur von Schirach 1940 Hitlers Reichsstatthalter und Gauleiter in Wien wurde, ließ er sich mit Frau und vier Kindern in einer prächtigen Villa auf der Hohen Warte nieder. Jetzt war er fünf Jahre lang, bis zum Zusammenbruch des Dritten Reichs, für die Deportation der Wiener Juden verantwortlich. Deren Verschleppung in die Konzentrationslager empfand der erklärte Antisemit als „aktiven Beitrag zur europäischen Kultur“.
Im April 1945 sah sich Schirach dem „Führerbefehl“ verpflichtet, Wien gegen die Bombenangriffe der Amerikaner und gegen die Übermacht der Sowjets „bis zum letzten Mann“ zu verteidigen, was den sinnlosen Tod Tausender Menschen und die Zerstörung unwiederbringlich wertvoller historischer Bau- und Kunstwerke zur Folge hatte. Er selbst fand indes mit seiner Familie in den sicheren Gängen unterhalb der Hofburg Schutz.
Als die Rote Armee vor den Toren Wiens stand, flüchtete Schirach nach Tirol, wo er eine Zeit lang unter dem Namen Richard Falk lebte, ehe er sich den Amerikanern stellte. Ab November 1945 als einer der 24 Hauptkriegsverbrecher im Nürnberger Prozess angeklagt, wurde er wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt, die er im Kriegsverbrechergefängnis Berlin-Spandau verbüßte. Im Jahr 1950, während seiner Haftzeit, ließ sich seine Frau von ihm scheiden.
Nach der Freilassung im Oktober 1966 veröffentlichte Baldur von Schirach seine Memoiren „Ich glaubte an Hitler“ und gab diverse Zeitungsinterviews. Während er den „Führer“ bei den Nürnberger Prozessen noch einen „millionenfachen Mörder“ genannt und damit seine eigene Schuld heruntergespielt hatte, hielt er Hitler jetzt für einen „Mann mit großen Begabungen, der in gewisser Weise als Genie bezeichnet werden könnte“.
Neunjähriger Enkel
Als Schirach 1974 im Alter von 67 Jahren starb, war sein Enkel Ferdinand gerade neun Jahre alt. „Ich kannte ihn nicht“, wird er später sagen, „ich konnte ihn nichts fragen, und ich verstehe ihn nicht“. Er erinnert sich an einen Großvater, der mit ihm Mühle spielte und ihn nicht, wie andere Großväter, gewinnen ließ, sondern mit dem immer gleichen Trick hereinlegte, um selbst zu gewinnen.
Stellt man dem Charakter Baldur von Schirachs dem seines Enkels gegenüber, ergibt sich das exakt konträre Bild: Ein skrupelloser Schreibtischtäter der eine, stehen in den Büchern, Theaterstücken, Filmen und Essays des anderen Menschenwürde, Moralvorstellungen, Recht und Gesetz im Mittelpunkt. Auch NS-kritische Themen sind ihm ein Anliegen.
Bestsellerautor
Ferdinand von Schirach kam 1964 in München zur Welt, wo er sich als Strafverteidiger teils spektakulärer Fälle einen Namen machte. Im Alter von 45 Jahren veröffentlichte er seine ersten Kurzgeschichten, die oft Fälle aus seiner Anwaltskanzlei zum Inhalt hatten und in mehr als 40 Ländern erschienen. Die Gesamtauflage seiner Bücher liegt bei mehr als zehn Millionen. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit ist der heute 59-Jährige nach wie vor als Anwalt tätig.
Organisierte Verbrechen
Bereits als prominenter Jurist und erst recht als Bestsellerautor wurde er von Journalisten immer wieder aufgefordert, zu den Verbrechen seines Großvaters Stellung zu beziehen. Ferdinand von Schirach wich den Fragen lange aus und schrieb erst im September 2011 unter dem Titel „Du bist, wer du bist“ für den Spiegel einen Text zu diesem Thema:
Es sei klar, dass sein Großvater für die Deportation von 185.000 österreichischen Juden verantwortlich war und er „ohne Zweifel wusste, dass sie umgebracht wurden“. Ferdinand von Schirach bleibt unbegreiflich, dass sein gebildeter und kulturaffiner Großvater in seiner Loge in der Wiener Staatsoper saß und gleichzeitig den Südbahnhof zum Abtransport der Juden sperren ließ. „Seine Verbrechen waren organisiert, sie waren systematisch, kalt und präzise. Sie wurden am Schreibtisch geplant.“
Und dann schreibt Ferdinand von Schirach noch – klar und deutlich, wie er immer schreibt –, dass er wert „auf das Recht einer eigenen Biografie lege: Die Schuld meines Großvaters ist die Schuld meines Großvaters.“
Aufgelassenes Grab
Die Inschrift seines Grabsteins auf einem kleinen Friedhof in Rheinland-Pfalz hat Baldur von Schirach selbst und unmissverständlich formuliert: „Ich war einer von euch“. Als die Grabmiete 2015 endete, wurde sie von seinen Nachkommen nicht verlängert und die Grabstelle aufgelassen.
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